Das Politische ist eine Grundbedingung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wir treffen das Politische alltäglich in den Medien, bei Diskussionen auf der Parkbank, im Parlament, wenn wir öffentliche Infrastrukturen nutzen oder Verträge abschließen. Überall dort wo es verschiedene Standpunkte, Interessen, Begehren und Wissensstände gibt, dort gibt es auch das Politische (vgl. Meyer 2010: 18ff.). Der Mensch – wie Aristoteles schon vor über 2.000 Jahren sagte – ist ein politisches Wesen (zoon politikon). Daher verwundert es kaum, dass sich politische Ideen schon in den ältesten Mythen und im antiken Griechenland finden lassen. Doch die institutionalisierte Form der Politikwissenschaft ist eine sehr junge Disziplin. Erst nach 1945, also nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich die Politikwissenschaft als eigenständige Universitätsdisziplin, „die nach der Erfahrung mit den totalitären Diktaturen bei allen Studierenden unabhängig von der gewählten Fachrichtung, nicht nur Verständnis für die Funktions- und Erfolgsbedingungen der Demokratie wecken, sondern auch eine Identifikation mit ihren Werten begründen sollte“ (Meyer 2010: 21).
Genau hier möchte ich anknüpfen und zeigen, dass die Politikwissenschaft nicht nur den normativen Auftrag von Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit in sich trägt, sondern vor allem in Zeiten des aufsteigenden Rechtspopulismus und autoritärer Tendenzen eine federführende Funktion in unserer Gesellschaft einnehmen kann und auch sollte. Damals und heute – der normative Auftrag ist geblieben. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs hinterließen Angst und Schrecken. Man wollte begreifen wie es dazu kommen konnte und wie man es verhindern hätte können. Die Organisation der Vereinten Nationen wurde ins Lebens gerufen mit dem Ziel eine weltweite Kooperation und Frieden zwischen den Staaten zu fördern. Darüber hinaus wurde die International Political Science Association (IPSA), eine politikwissenschaftliche Fachvereinigung, unter der Federführung der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) 1949 in Paris gegründet (vgl. ISPA 2020). Mit den Worten dieser neu gebildeten Institution ist die universitäre Fachdisziplin Politikwissenschaft ein „Produkt der Nachkriegszeit“ (ebd.). Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich ein präventives Sicherheitsdenken, weshalb die Hoffnung bestand durch die Lehre der Politikwissenschaft eine Verbreitung und Förderung von Demokratie und Menschenrechte zu forcieren (vgl. Hartmann 2001: 19). In Österreich beginnt die Institutionalisierung des Fachs erst im Jahr 1968 in Wien mit einer „Professur für Philosophie der Politik- und Ideologiekritik“ als Lehrkanzel am Institut für Philosophie. Erst 1977 erhielt das Institut die Bezeichnung „Politikwissenschaft“. Diese Wissenschaft mit Blick auf den historischen Kontext hat eine normative Funktion und einen ethischen Anspruch (Nitschke 2012: 10). Sie ist eine „demokratische Wissenschaft“, das heißt, sie tritt ein für ein kritisches Verständnis von Politik, dekonstruiert Macht- und Herrschaftsverhältnisse, deckt hierarchische Geschlechternormen auf und entlarvt Demagog*innen und rechtspopulistische Akteur*innen. Unter der sozialdemokratischen Regierung („Ära Kreisky 1970 – 1983) wurde die Etablierung der Politikwissenschaft auch als „Revolutionswissenschaft“ betrachtet (vgl. Pelinka 1996: 135). Eva Kreisky hatte ab 1993 eine Professur für Politik der Geschlechterverhältnisse und ihre Forschungsschwerpunkte lagen in den Bereichen Feminismus, Politische Theorie und Ideenlehre.
Revolutionär ist auch heute noch das Institut für Politikwissenschaft, denn es werden von international anerkannten Koryphäen wie etwa Birgit Sauer, Ulrich Brand und Oliver Marchart gesellschaftskritische Ansätze, poststrukturalistische und radikale Denker*innen – wie Judith Butler, Friedrich Nietzsche oder Michel Foucault – gelehrt. Diese ideologie- und gesellschaftskritischen Theorien und Methoden sind das Grundwerkzeug der politikwissenschaftlichen Ausbildung und zeugen noch heute vom normativen Charakter dieses Fachs. In Zeiten von rechtspopulistischen Persönlichkeiten und Bewegungen wie etwa Trumps Republikanismus in den USA, Brexit in Großbritannien, Bolsonaro in Brasilien oder Orban in Ungarn sowie dem wahrgenommenen Scheitern liberaler „Grand Strategies“ (globalisierter Freihandel, Privatisierung, Deregulierung) bedarf es geradezu einer kritischen und gleichzeitig normativen Wissenschaft, die nicht nur Erklärungsansätze, sondern auch Lösungen anbietet (vgl. Hansel/Lambach/Reuschenbach 2018: 713). Die Politikwissenschaft kommt dieser Aufgabe meines Erachtens auch nach. Sie betreiben eine „an die Wurzel gehende“ Ursachenforschung. Laut Sauer (2017: 4) entstehen nämlich Phänomene wie der Rechtspopulismus nicht (nur) aus dem gesellschaftlichen oder extremistischen Rand, sondern aus den Widersprüchen die tief in unserer Gesellschaft verankert sind. Diese müssen demnach auch benannt und öffentlich bearbeitet werden. Marchart (2018) sieht dies ähnlich und plädiert daher für ein radikales Demokratieverständnis. Der gesellschaftliche Antagonismus, Klassenkämpfe und ungerechte Geschlechterverhältnisse sowie rassistische Diskurse und Praktiken dürfen nicht verschleiert oder verschwiegen werden. Die Normativität radikaldemokratischer Theorien liegt gerade darin, Konflikte, Dissens und selbst rechtspopulistische Diskurse im demokratischen Rahmen zuzulassen, sofern diese den demokratischen Rahmen nicht unterminieren wollen. Dieses Verständnis von Politikwissenschaft und Demokratie deckt Widersprüche auf und versteht Populismus als Krisenbearbeitungsstrategie – wie es Benjamin Opratko (2017) vom Institut für Politikwissenschaft in Wien analysiert. Die Krise die zum Aufschwung des Rechtspopulismus beigetragen hat wird von prominenten Politikwissenschaftler*innen auch als Neoliberalismus bezeichnet, somit als eine Ausuferung kapitalistischer Produktions- und Konsumweise verstanden und öffentlich thematisiert (Brown 2019; Fraser 2017; Huke 2019).
Was sollten wir aus der Geschichte gelernt haben?
Der Raum, in dem Politik gemacht wird ist kein wissenschaftlicher Debattenraum. Entscheidungen in der Politik werden oftmals auch ohne große Reflexionen durchgesetzt und Entscheidungsträger*innen mit populistischen Tönen sind derzeit im Aufwind. Gerade in solchen Zeiten ist die Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln der Politikwissenschaft gefordert. Diese Anfänge des Fachs der Politikwissenschaft sind eng verbunden mit dem idealistischen Auftrag die demokratischen Werte zu verteidigen, Frieden zu stiften und eine analytische sowie normative Urteilskompetenz bei Studierenden zu fördern. Genau darin liegt der gesamtgesellschaftliche Nutzen dieser Ausbildung. Rufen wir uns nochmal in Erinnerung: Aus der Asche der beiden Weltkriege entstand diese Wissenschaft mit einer kurzen, aber umso stärkeren Botschaft: NIE WIEDER! (Adorno 1966). Ein „Nie-Wieder-Faschismus“ und ein „Nie-Wieder-Totalitarismus“ kann es nur dann geben, wenn die tiefgreifenden Widersprüche unserer Gesellschaft mit Ross und Reiter benannt werden und sich Wissenschaftler*innen auch normativ positionieren. Aufgrund der Neoliberalisierung der Hochschulen (Humanressourcen, Dritt-Mittel-Akquise und Publikationsdruck) ist es keine leichte Aufgabe Stellung zu beziehen. Adornos Diktum in seinem Werk Erziehung zur Mündigkeit, kann für die Politikwissenschaft jedoch nur dann fruchtbar sein, wenn Horkheimers (1988) pointierte und radikale Aussage berücksichtigt wird: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“.
Literaturverzeichnis
Adorno, W. Theodor (1966): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Brown, Wendy (2019): In the Ruins of Neoliberalism. The Rise of Antidemocratic Politics in the West. New York: Columbia University Press.
Fraser, Nancy (2017): Against Progressive Neoliberalism, A New Progressive Populism, abgerufen am 9.9.2020, unter: https://www.dissentmagazine.org/online_articles/nancy-fraser-against-progressiveneoliberalism-progressive-populism.
Hansel, Misch/ Lambach, Daniel & Reuschenbach, Julia (2018): Im Schatten der Krise: Über die Normativität in der politikwissenschaftlichen Hochschullehre. In: PVS 59(2018), S. 713-717.
Hartmann, Jürgen (2001): Internationale Beziehungen. 2., Aufl., Wiesbaden: VS Verlag.
Horkheimer, Max (1988): Die Juden und Europa. In: Gesammelte Werke. Band 4, Frankfurt am Main, Erstveröffentlichung, In: Zeitschrift für Sozialforschung. Jg. VIII/1939.
Huke, Nikolai (2019): Neoliberale Alternativlosigkeit, progressiver Liberalismus und der Aufstieg des autoritären Populismus – Warum die Ohnmacht antikapitalistischer Politik ein Grund zur Sorge ist, nicht aber das Gendersternchen, In: PROKLA, Vol. 49(4), S. 631-644.
International Political Science Association (IPSA) (2020): History – Prologue: Political Science, a Postwar Product (1947-1949), abgerufen am 10.9.2020, unter: https://www.ipsa.org/history/prologue.
Marchart, Oliver (2018): Thinking Antagonism. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Meyer, Thomas (2010): Was ist Politik? 3., Aufl., Wiesbaden: VS Verlag.
Nitschke, Peter (2012): Einführung in die Politikwissenschaft. Darmstadt: WBG Verlag.
Opratko, Benjamin (2018): Rechtspopulismus als Krisenbearbeitung Anmerkungen zum Aufstieg von AfD und FPÖ. In: PROKLA, Heft 186, 47. Jg. 2017, Nr. 1, S. 123-130.
Pelinka, Anton (1996): Die Politikwissenschaft in Österreich. In: Hans Lietzmann & Wilhelm Bleek (Hrsg): Politikwissenschaft: Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa. München: Oldenbourg Verlag.
Sauer, Birgit (2017): Gesellschaftstheoretische Überlegungen zum europäischen Rechtspopulismus. Zum Erklärungspotenzial der Kategorie Geschlecht. In: PVS 58(2017), S. 1-20.
Verfasst von Josef Mühlbauer MA (Varna Peace Institute), vom 23.03.2022