Am 30. November 2013 fand im noch relativ jungen Marx Engels Zentrum Berlin (MEZ) ein Tagesseminar zum Thema „In welchem Kapitalismus leben wir?“ statt. Zur Frage, wer oder was ist das Marx-Engels Zentrum, zitiere ich von dessen Homepage: „Das Marx-Engels Zentrum Berlin sieht sich in der Kontinuität der Bildungsarbeit der Arbeiterbewegung. Es geht davon aus, dass es stets der theoretischen Durchdringung der vorgefundenen mystifizierten Wirklichkeit bedarf, um die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Menschen zu erkennen. Erst dies schafft die Voraussetzung für eingreifendes Denken, indem es ‚in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.’ (Karl Marx)
[…] Die Erneuerung und Wiederbelebung marxistischen Denkens ist auf Beiträge aus unterschiedlichsten politischen Richtungen angewiesen. Im Beirat des Zentrums haben sich daher Genossinnen und Genossen der Partei Die Linke, der DKP, sowie Parteilose zusammengefunden. Weitere Interessierte sind zur Mitarbeit eingeladen.“
Die Teilnehmer speisten sich dementsprechend aus diesem politischen Milieu. Genauer gesagt könnte man von einer Veteranenversammlung marxistisch-leninistischer Genossen sprechen, sodass beim Eintritt in den Tagungsort (eine ganz normale Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg, die gar nicht mit dem Begriff eines „Zentrums“ assoziiert werden kann) schon recht schnell feststand, dass ein junger, marxistisch orientierter Student leicht fehl am Platze sein könnte. Der Altersschnitt der Referenten und Zuhörer (deren Zahl so bei etwa 35 lag) wird die 65 wohl übertroffen haben. Dieses Problem wurde in einer der Diskussionen auch angesprochen mit der Frage, ob das MEZ in zehn Jahren nicht vor leeren Publikumsplätzen Vorträge abhalten wird. Dieses Problem erscheint mehr als berechtigt zu sein, soll hier aber nicht vertieft werden.
Das Seminar bestand aus vier Vorträgen:
„Der ohnmächtige Antikapitalismus, Enthüllung, Protest und Revolte heute“ von Arnold Schölzl (gelernter Philosoph, Chefredakteur der Jungen Welt)
„Risikokapitalismus – Auf dem Weg in die Armutsgesellschaft“ von Werner Seppmann (Soziologe, Mitglied des Vorstands der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal)
„Hintergrund der gegenwärtigen Krise“ von Helmut Dunkhase (Mathematiker, DKP-Mitglied, UZ-Autor)
„Imperialismus heute“ von Andreas Wehr (LINKE-Mitglied, Mitarbeiter der europäischen Fraktion linker Parteien GUE/NGL)
In der Begrüßung von Wehr wurde der Koalitionsvertrag zitiert, wonach man glauben könnte, dass es sich in unserem Kapitalismus gut leben lässt. Diese These wurde im weiteren Verlauf zu widerlegen versucht, unter anderem mit Verweis auf den aktuellen Datenreport, demzufolge die Armutsgefährdung in Deutschland zwischen 2007 und 2011 von 15,2 auf 16,1 Prozent gestiegen ist. Das heißt, nicht allen Menschen geht es gut im Kapitalismus. Zu den Vorträgen ist zu sagen, dass eigentlich nur einer wirklich gut und anregend war, nämlich der erste von A. Schölzl, auf den ich nun am meisten eingehen möchte.
Schölzl begann mit einer Bemerkung aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), die behauptet hat, dass wir politisch in einer Zeit des Biedermeier leben, woraufhin Schölzl entgegnete, er hoffe doch, dass wir bald einen neuen Vormärz erleben. Im Vortrag vertrat er eher pessimistischere Ansichten und formulierte sieben Thesen:
- Die BRD ist ein Land des Antikapitalismus.
Er begründete diese These vor allem mit Ergebnissen aus einer Allensbach-Studie, bei der 65 % der Befragten die Einkommensverteilung ungerecht empfänden. Außerdem hätte eine Mehrheit eine „stille Liebe“ zur Planwirtschaft und verbände soziale Sicherheit mit Sozialismus und einer wachsenden Skepsis dem Kapitalismus gegenüber. Antikapitalismus macht er selbst bei bürgerlichen Parteien wie der CDU aus, die von ihrem marktradikalen Programm von Leipzig heute nichts mehr wissen will.
Diesem Befund eines Antikapitalismus‘ der CDU fand ich reichlich übertrieben, auch wenn ich ihm zustimme, dass die CDU nicht mehr so radiaklliberal ist wie die FDP und sich schon ein Stück Richtung modernisierter Sozialdemokratie bewegt hat. Antikapitalismus würde ich aber anders, privateigentumskritischer definieren.
- Die BRD ist ein Land des kompletten Sieges über den Antikapitalismus
Dies bezieht sich vor allem auf den Untergang der DDR, aber auch auf die Tatsache, dass sich Menschen, die heute noch den Sozialismus unterstützen, stets das Schlimme aus der bisherigen Sozialismusgeschichte (Gulag, Unterdrückung, Mauer etc.) anhören müssen und gegen solche Argumente nicht ankommen. Für die These spräche, dass für „Anti-DDR-Propaganda“ (gemeint sind wohl Stasi-Museen wie das in Berlin-Hohenschönhausen, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur u. Ä.) jedes Jahr dreistellige Millionenbeträge aus dem Bundeshaushalt, für das Gedenken an Opfer des Faschismus aber viel weniger bereitgestellt werden. Aber scheinbar wirkt die „Anti-DDR-Propaganda“ nicht, da die Kapitalismusskepsis (siehe These 1) eher wächst.
- Die BRD ist das Land des folgenlosen Antikapitalismus
Schölzl stellt nun fest, dass in Deutschland – historisch betrachtet – fast immer kurz vor der Revolte Schluss ist. Während in Spanien, Griechenland etc. zum Teil Millionen Menschen gegen Sozialabbau und Troika-Diktate auf die Straße gingen, sei es in Deutschland ruhig. Und selbst wenn sich in Deutschland einmal etwas Proteststimmung in der Bevölkerung entwickelt habe, eine richtige soziale Revolution habe es nie gegeben. Andererseits ist der antikapitalistische Protest in Südeuropa auch folgenlos geblieben, denn er hat die unsozialen Maßnahmen nicht verhindern können. Regierungen können das aushalten und lassen sich davon nicht beeindrucken.
Der Referent weist dann auf die Beobachtung hin, dass Politiker, die sich für Bankenregulierung aussprechen, stets in der Presse heruntergeschrieben werden. Er führt als Beispiel Francois Hollande an, der seit Bekanntwerden seiner Pläne einer stärkeren Regulierung von Banken der unbeliebteste Präsident seit Beginn der V. Republik ist. Auch Oskar Lafontaine sei es 1999 so ergangen. In Frankreich gehen die Menschen aber immerhin auf die Straße und machten Protesterfahrungen (wenn dies auch keine revolutionären Proteste seien), in Deutschland fällt selbst dieses aus, womit sich Deutschland den Zuständen in den USA und Großbritannien angepasst hätte.
- Daher: Die BRD ist das revoltelose Land
Die Menschen wüssten wahrscheinlich, dass Gewalt nichts bringe. Außerdem sei die feste Überzeugung, dass es ihnen doch ganz gut ginge (im Vergleich zum Rest in Europa), verantwortlich für die Ruhe im Land. Der Standortnationalismus sei fest in den Belegschaften bzw. Gewerkschaften (v. a. der exportierenden Industrien) verankert. Als Schlechte werden die ausbeutenden Unternehmer woanders (USA oder Osteuropa etc.) betrachtet. Während die USA imperiale Kriege anzetteln, um für Ruhe im Inland zu sorgen, würden in Deutschland (Spar-)Diktate ausreichen.
- Die BRD ist das Land der vom Staat komplett kontrollierten Nicht-Revolte
Es werde ein großer staatlicher Aufwand für Überwachung und Repression betrieben (historische Analogie: Karlsbader Beschlüsse). Auffällig ist für Schölzl, dass die Enthüllungen Snowdens, die bis jetzt publiziert worden, den BND und andere deutsche Behörden verschonen. Trotzdem sei durch verschiedene Publikationen bekannt, dass die Überwachungskompetenz der „Nationalsozialisten“ in die BRD überführt wurde, inklusive des vorbelasteten Personals. Die Geheimdienste bauten neofaschistische Strukturen in Ostdeutschland auf, um das ostdeutsche Protestpotenzial in gewünschte Bahnen zu lenken, so eine weitere These des Referenten. Die Überwachung in Deutschland sei gut ausgebaut (siehe neue BND-Zentrale in Berlin), aber unsichtbar.
- Ist Deutschland das Land des hilflosen Antikapitalismus?
Zwar gibt es Streiks in Deutschland, wie gegenwärtig im Einzelhandel. Doch die Frage bleibt: Wie kommen wir vom Biedermeier zum Vormärz? Damit verbunden sei die Frage nach Alternativen in der Geschichte bzw. zum Kapitalismus? Ein Problem der gegenwärtigen Gesellschaft sei, dass über Alternativen nicht mehr debattiert werde und dass die Systemfrage in antikapitalistischen Kreisen häufig eine untergeordnete Rolle spiele. Dabei könne man keine Alternative zum Kapitalismus formulieren ohne eine rationale Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft zu besitzen. Dieser Zustand ähnele dem vor der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, als Absolutismus, Gottesgnadentum etc. auch alternativlos erschienen.
Daher sei das Wichtigste „Enthüllung“, d. h. den wirklichen Druck noch erdrückender machen, indem man ihm das Bewusstsein hinzufügt. Die bestehenden Verhältnisse müssen enthüllt werden, durch Zeitung und Schaffung von Foren für eine Verständigung der Arbeiter. Ebenso wichtig sind die Schulung in Politischer Ökonomie und das Studium der Gesellschaft, also klassische politische Bildungsarbeit, woran das MEZ, MASCH etc. wohl arbeiten wollen. Eine Veränderung der Zustände sei nur möglich, wenn man ein Bewusstsein der Zustände und von deren Veränderungsbedürftigkeit habe.
- Ist der Antikapitalismus überhaupt noch hilflos?
Schölzl meint: Nur wenn er ohne den Begriff Sozialismus bzw. Kommunismus auskommen will. Es müsste gegen das Dogma des Neoliberalismus bzw. der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft angegangen werden, wonach niemand an Alternativen auch nur denken und die aktuellen Zustände hinterfragen darf. Schölzl plädiert für eine Neubelebung der Berufsrevolutionäre. Er warnt aber vor der heute beliebten These der Pluralität der Wahrheit, die oft (auch von Linken) gegen den Marxismus in Anschlag gebracht werde.
In der anschließenden Diskussion wurden bestimmte Probleme benannt, z. B. die Frage, wie man mit politischen Bildungsangeboten wie denen des MEZ noch nicht vorgebildete Menschen erreichen könne. Außerdem fehle es an konkret ausformulierten Alternativen. Eine Diskutantin wies auf das Problem unter vielen jüngeren Linken hin, die sehr stark an die Humanisierbarkeit des Kapitalismus glaubten (was sich u. a. in „Transformationstheorien“ ausdrücke) und die daher schwer für revolutionäre Gedanken zu gewinnen sind. Auf Schölzls Forderung nach Aufklärung über die Zustände meldete sich ein Zuhörer, der fragte, woher die Aufklärer nur kommen sollen, und der auf den hohen Altersdurchschnitt der Seminarteilnehmer hinwies. Die Antwort lautete in etwa, dass man nach den größten sozialen Bewegungen Ausschau halten sollte und dort als Marxist revolutionäre Ideen und Aufklärung einbringen solle. Die Strategie, durch Aufklärung und Aktionen antikapitalistische Bewegungen aufzubauen, ist m. E. genauso einleuchtend wie banal und unkonkret. Aber spannend wäre die konkrete Vorgehensweise: Wie/ mit welchen Texten können junge, vom Marxismus unbeleckte Menschen an dessen Ideengebäude herangeführt werden? Der Marxismus ist eine höchst umfangreiche, komplexe Gesellschaftstheorie die man mit dem durch das bürgerliche Bildungssystem geschulten Verstand nicht so einfach (und schnell) begreift.
Weiterhin wurde auf das Problem der sozialen Apathie bzw. von Ohnmachtsgefühlen gesprochen, dass sich viele Leute mit den Verhältnissen abgefunden haben und nicht mehr daran glauben, dass sich etwas zum Besseren entwickeln lasse. Nicht zuletzt wurde darauf hingewiesen, dass es bei Selbstreflexion nicht bleiben könne – wo bleibe die Aktion? Schölzl erwiderte, dass Lernen vor allem durch Aktionen und eigene Erfahrungen in Demos, Streiks etc. stattfinde. Theorie und Praxis gehören daher zusammen.
Angemerkt sei zu diesem Vortrag von meiner Seite, dass ich ebenfalls ein großes Problem in dem Glauben von vielen sich links gebenden Aktivisten an die Reformierbarkeit des Kapitalismus sehe, auch wenn ich es psychologisch verstehen kann, dass man als junger Mensch nicht die totale Konfrontation mit dem System sucht, da man dann entsprechender repressiver Verfolgung seitens des Staates ausgesetzt wäre. Und es wird sehr oft auf das Scheitern des Realsozialismus verwiesen. Aber wer verweist einmal auf das Scheitern des Sozialreformismus, z. B. in der Weimarer Republik, deren Abgleiten in den Faschismus die Reformisten nicht verhindert haben? Was hat die Sozialdemokratie denn bis heute erreicht im Hinblick auf die Emanzipation der unterdrückten Klassen? Sicherlich nicht wenig, der Sozialstaat in Deutschland ist eine historische Errungenschaft –doch obwohl es Deutschland wirtschaftlich nicht so elendig geht, werden viele dieser sozialen Errungenschaften heute wieder infragegestellt, auch von den Sozialreformisten der SPD. Beide große Richtungen des sozialistischen Denkens haben ihre Niederlagen erlitten und Fehler gemacht. Da wäre es schon gut, wenn mehr junge Menschen ein Leben als Berufsrevolutionär ergreifen würden. Bloß muss man dann kritisch fragen, wo die materielle Basis für ein solches Leben herkommen soll? Karl Marx hatte noch finanzkräftige Gönner, aber wer finanziert heute noch das Leben von Berufsrevolutionären?
Und abschließend noch eine Bemerkung zum Generationenkonflikt: Ein Mangel der Veranstaltung war nicht nur der große Altersschnitt der Teilnehmer, sondern auch der verwendeten Theorien. Jeder Referent (und Zuhörer) brachte seine „beliebtesten“ Marx-Zitate hinein, ab und zu wurde Lenin und sogar Gramsci eingestreut; doch man konnte den Eindruck gewinnen, dass eine Weiterentwicklung des marxistischen Denkens nach Lenin nicht bemerkt wurde. Es fehlte eine theoretische Verknüpfung mit aktuellen linken, nicht-dogmatischen marxistischen Ansätzen. Das wäre aber wichtig, da der Kapitalismus von heute nicht mehr der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts ist, siehe Sozialversicherungen, Verflechtung von Bank- und Industriekapital oder Sozialpartnerschaft.
Die Vorträge von A. Wehr und H. Dunkhase sind auf http://www.mez-berlin.de/seminar-in-welchem-kapitalismus-leben-wir.html (ganz unten) nachlesbar.
Weiterführende Literatur:
Seppmann, Werner (2013): Ausgrenzung und Herrschaft : Prekarisierung einer Klassenfrage. Hamburg: Laika-Verl.
Schölzl, Arnold (2013): Revolution. Köln: Papyrossa.
Wehr, Andreas (2012): Die Europäische Union. Köln: Papyrossa.
Wehr, Andreas (2013): Der europäische Traum und die Wirklichkeit: Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen. Köln: Papyrossa.