Nach G. Agamben und A. Badiou äußert sich Daniel Bensaïd zur Demokratie. Dabei ist der französische Philosoph und Professor an der Universität Paris VIII wohl nur einem kleinen deutschsprachigen Kreis bekannt, da nur wenige seiner zahlreichen Schriften ins Deutsche oder Englische übersetzt wurden. Dabei galt er, bis zu seinem Tod 2010, als einer der aktivsten Linksintellektuellen in Frankreich. Beachtenswert für die Person und das Werk Bensaïds ist wohl sein stetes politisches Engagement (in Frankreich aber auch in Spanien oder Lateinamerika) für die Vierte Internationale – ein internationaler trotzkistischer Zusammenschluss.
Der Autor stellt für die westlichen Demokratien der 1970er eine Zäsur fest. Er sieht darin die Ablösung des Gegensatzes Kapitalismus vs. Kommunismus und die Entstehung von Demokratie vs. Totalitarismus (S. 16; [dt. 23]). Damit einher gehe die Autokratisierung der Demokratie durch die Politik und dessen öffentliche Unterstützung durch Intellektuelle, denen es zunehmend um eine „Progress through Order“-Politik gehe, sowie eine Marktliberalisierung und die Auflösung einer sozialen Politik (S. 17-19; [dt.24-26]). Die Eliten würden zunehmend Angst vor den demokratischen Elementen und dem Volk (demos) bekommen, weswegen sie ordnungspolitische Aspekte und konservative Werte betonen.
Mit Bezug auf J. Ranciere konstatiert Bensaïd, dass Demokratie nicht nur als Institution, sondern auch als Bewegung, die sich stetig ausdehnt, verstanden werden müsse (S. 21-22; [29]). Er erteilt allen autoritären Bezügen und Heilsversprechungen einer Demokratiekritik eine scharfe Abfuhr. Überdies widerspricht er A. Badiou‘s Gleichsetzung von Demokratie und Kapitalismus; sowie seiner Verharmlosung des Stalinismus (siehe dazu auch Badious Text in dem vorliegenden Band) (S. 22-25; [30-33]).
Folgerichtig sieht Bensaïd in der staatlichen Verfasstheit von Demokratie das Problem, weswegen er diese Verknüpfung zugunsten der Demokratie aufzulösen sucht. Es gehe dabei um einen Prozess der „permanenten Revolution“ (S. 27; [36]) – ein indirektes Zitat eines Buchtitels von Leo Trotzki – der aus zwei Teilen bestehe. Zum einen müssten die zentralen Funktionen des Staates in öffentliche Hand bzw. öffentlichen Besitz übergehen und durch die Bürger_innen kontrolliert werden. Ziel sei „the debureaucratization of institutions and permanent deliberation on public matters“ (S. 27; [36]). Nur politische Auseinandersetzungen und die Erlangung der Macht durch das Volk können diese Veränderung herbei führen. Die Machterlangung könne nicht mit der Abschaffung des Staates gleichgesetzt werden, sondern sei nur ein Schritt in diese Richtung. Zum anderen biete die Verfassung selbst die Möglichkeit, den Staat abzuschaffen. So sei schließlich der Souverän – das Volk – in der Lage sich Gesetze zu geben oder sie abzuschaffen und daher komme der konstituierenden Macht des Souveräns auch das Recht zu, die Verfassung zu verändern und gegen sie zu revoltieren („the right to insurrection“) (S. 29; [38]).
Der einsetzende Prozess der permanenten Revolution lasse zudem die Repräsentationsfunktion in der bisherigen Demokratie obsolet werden, weil Bensaïd den Souverän dynamisch und nicht statisch versteht, d. h. ihn nur in der konkreten Handlung und Aktivität sieht. Eine Verstetigung durch Repräsentation sei daher nicht möglich (S. 29; [38]). Man könnte auch sagen: Der Souverän kann nur ein konstituierender, aber kein konstituierter Souverän sein.
Am Ende des ersten Abschnitts des Textes schließt der Autor damit, dass die Abschaffung des Staates eher einem Wunder gleichkommen würde. In Anlehnung an Rousseau formuliert er, dass die Menschen „deceit, manipulation, propaganda“ (S. 30 [39]) ausgesetzt seien und eine wirkliche(!) Interessenvertretung nicht möglich sei. Deshalb müsste jeder Interessenzusammenschluss verboten werden, damit jedes Individuum für sich sprechen könne. Bensaïd bezieht sich schließlich auf Rousseau, der auf einen Gesetzgeber verweist, um das wirkliche(!) Interesse der Menschen durchsetzen zu können. Doch Bensaïd bezeichnet dies als aufklärerischen Despotismus und scheint so die Rousseau’sche Idee zu verwerfen (S. 31; [40]).
Im Vergleich zu Agamben und Badiou ist Bensaïds-Text klarer und argumentativ besser strukturiert. Ebenso ist seine Kritik der „Progress through Order“-Politik über die Demokratie und seine Überlegungen zur Unmöglichkeit der Repräsentation des Souverän und der intrinsischen Veränderbarkeit der demokratischen Verfassung nachvollziehbar und anregend zu lesen. Gerade diese Veränderbarkeit scheint im deutschen Rahmen auf Art. 20, Abs. 4 des GG hinauszulaufen, welches ein „Recht auf Widerstand“ beinhaltet (dazu auch Fisahn 2012).
Aber mir stellen sich nach dem Lesen ebenso drei Fragen.
Erstens ist es die Frage nach der „permanenten Revolution“. Setzt sich Bensaïd bewusst von Trotzki ab, weil er ihn nicht zitiert oder versucht er das Konzept dem Leser „ohne trotzkistische Vorbelastung“ zu präsentieren? So oder so, bleibt seine Idee der steten Aktivität (oder sollte man sagen: Mobilisierung?) des Souverän, um den Staat aufzulösen, im Utopischen. So konzipiert er zwar plausibel die Spannung aus Demokratie und rechtlicher Ordnungspolitik, aber offen bleibt, warum sich die Eliten und die konstituierte hegemoniale Macht nicht gegen die „permanente Revolution“ wehren. Die bloße Berufung auf ein Recht zum Aufstand durch alle, die die gleichen Interessen hätten, erscheint mir naiv, um sich die Hegemonie anzueignen und den Staat abschaffen zu können.
Zweitens bleibt für mich, der hohe Wahrheitsanspruch bei Bensaïd fraglich. Wie erkennt Bensaïd, wann alle(!) Menschen ihre wahren Interessen verfolgen und wann sie nur manipuliert werden? Erkennt Bensaïd diese, weil er als Intellektueller und politischer Aktivist eine reflektiertere Position einnehmen kann als „Normalbürger_innen“ oder welche Voraussetzungen sind dafür nötig? Und können die wahren Interessen der Menschen überhaupt bestimmt werden?
Zuletzt bleibt für mich die „Hyperindividualisierung“ bei Bensaïd fraglich. Bensaïd befürwortet, dass jeglicher Interessenzusammenschluss verboten werden sollte; und das gar im Interesse der Demokratie(!). Das scheint auf eine ziemlich naive Vorstellung von der Egalität aller Menschen abzuzielen. Nur weil es keine Organisationen mehr gibt, die Interessen bündeln und repräsentieren, heißt das nicht, dass alle Menschen die gleichen Voraussetzungen haben, sich an den, von Bensaïd befürworteten, öffentlichen Debatten zu beteiligen. Auch bei diesen bilden sich Hierarchien und Machtungleichheiten heraus, die sich dann v. a. in den Fähigkeiten des öffentlichen Redens und Argumentierens niederschlagen. Könnten es dann nicht gerade wieder Intellektuelle und politische Aktivist_innen sein, die Führungspositionen einnehmen (oder gar eine Avantgarde bilden?), weil sie sich ausgefeilter und argumentativ stärker ausdrücken können als andere?
Es bleibt also zu hoffen, dass sich im zweiten Teil des Textes, welcher dann ab 14.11. zu besprechen ist, einige Fragen klären.
Schönen Dank für den Beitrag.
Ich hätte einmal eine Anmerkung zu deiner Kritik an seinem Wahrheitskonzept. Danach würde ich kurz auf eine Stelle eingehen in Bensaids Text, die nicht ganz klare revolutionstheoretische Implikationen hat.
Du schreibst, er würde sich affirmativ auf Rousseau beziehen, wenn er formuliert, dass das Volk Irreführung und Manipulation unterliegen würde. Ich denke allerdings, dass er dort Rousseau kritisiert, nämlich dafür dass er sich Meinungsunterschiede in der Bevölkerung nur so erklären kann. Im darauffolgenden Satz schreibt er dann auch: „Dies ist die Urfassung der gegenwärtigen Verschwörungstheorien, denen der entscheidende Begriff der Ideologie fehlt“ (S. 38).
Gleiches beim „Verbot von Interessenszusammenschlüssen“, das Rousseau einführen will, damit es zu keinen Verzerrungen des Gemeinwillens kommt. Das spiegelt, glaube ich, keineswegs Bensaids Meinung wieder, der ja auch im Aufsatz stets den Verlust des Politischen, sprich der Konflikthaftigkeit kritisiert. Daher mündet das Ganze dann ja schließlich auch in der Ablehnung der übergeordneten Instanz, die nach Rousseau Einsicht in die „wahre“ Meinung der Menschen hat. Denn eine Person, die erstens „alle menschlichen Leidenschaften durchschaut“ und zweitens selbst gegen diese immun ist, kann es laut Bensaid nicht geben (vgl. S. 39).
Wenn man aber Bensaid ein absolutes Verständnis von Wahrheit würde vorwerfen wollen, dann könnte man sich vielleicht die Frage stellen, ob nicht der Ideologiebegriff ein solches nahelegt.
Mich hat die Stelle irritiert, in der er schreibt, dass die Machtübernahme erst der Beginn des Prozesses des Staatsterbens sei. Für mich klingt das so, als gäbe es einen entscheidenen Punkt, an dem es zur Machtergreifung kommt. Ist die sogenannte Machtübernahme nicht viel eher ein permanenter Prozess, ohne den einen großen Umschlagpunkt? Wenn ja verstehe ich nicht, wieso er von einem Nacheinander von Machtübernahme und Untergangsprozess des Staates spricht, dann ist es doch viel eher so, dass die beiden Prozesse gleichzeitig stattfinden. Äußerst interessant finde ich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Rolle er der Partei zuschreibt. Konkreter wird es leider nicht als in der Frage auf Seite 33: „was ist, wenn die Partei nicht das Problem, sondern Teil seiner Lösung wäre?“
AS‘ Anmerkungen zu Rousseau teile ich – ich hatte das auch so verstanden, dass er Rousseau kritisch sieht.
Was die Frage des absterbenden Staates angeht, sollte beachtet werden, dass diese Frage noch auf S. 35 und 35ff. behandelt wird. Aber welche Stelle meinst du mit „dass die Machtübernahme erst der Beginn des Prozesses des Staatsterbens sei“? Auf S. 32 weist Bensaid auf die Kontinuität der Geschichte hin, dass es einen totalen Neuanfang nach dem Absterben des Staates eher nicht geben kann. Allerdings hast du recht, dass Bensaid da nicht sehr konkret ist und ich fände es auch sehr spannend, wenn er die von dir zitierte Frage beantworten würde.
Ich denke, er weist auf Seite 32 darauf hin, dass es nach der Zerschlagung des bürgerlichen (!) Staates keinen kompletten Neuanfang geben kann, nicht nach dem Absterben des Staates. Ich hatte den Eindruck, dass er sich dort gegen orthodox-marxistische Ansichten, wonach Revolution Sturz der Regierung bedeutet, wendet. Deswegen war ich ein wenig überrascht, dass er auf Seite 36 von „Machtübernahme“ spricht, was für mich wiederum nach Revolution im klassischen Sinne klingt. Folgende Stelle meinte ich: „Die Machtübernahme ist also nur ein erster Schritt, ein Anfang, der Auftakt zu einem Prozess und nicht sein Ergebnis.“ Die Frage, die sich mir stellt ist also, was es mit dieser „Machtübernahme“ auf sich hat und welche revolutionstheoretischen Überlegungen dahinter stehen. Schwingen da z.B die Bedenken von SW mit, dass diejenigen, die sich derzeit in priviligierten Positionen befinden, ihre Privilegien nicht ohne gewaltsamen Widerstand hergeben werden?
Ich denke die von mir zitierte Frage zur Rolle der Partei ist ein Stück weit rhetorisch. Ich denke also, dass er die Partei als Teil der „Lösung“ betrachtet. Mich würde aber interessieren, welche Rolle genau er der Partei zuschreibt.
In diesem Abschnitt geht es ja um den Prozess der Entbürokratisierung und die Überführung der staatlichen Funktionen in vom Volk kontrollierte, öffentliche Funktionen. Und da ist wohl selbstverständlich, dass die „Machtübernahme“ durch das Volk oder eine revolutionäre Partei (das bleibt noch offen) nicht sofort zu einer unbürokratischen, demokratischen Gesellschaft führt.
Was die Partei angeht, würde ich AS rechtgeben, die Frage ist rhetorischer Art. Und Bensaid hat m.E. Recht, ohne Partei bzw. ein sich anders nennendes organisatorisches Zentrum ist eine Revolution völlig unwahrscheinlich, was sie ohnehin schon ist.
Auch von mir ein Lob für die gute Zusammenfassung des Textes. Zunächst will ich dir recht geben was die Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Argumentationsstruktur angeht, da hat Bensaïd schon mal Vorteile. Die Angst der Eliten vor den demokratischen Massen finde ich einen wichtigen Gedanken im Text, der gegenwärtig wieder akuter wird und an Phänomenen wie der neuen Alternative für Deutschland empirisch beobachtbar ist. Allerdings ist es bisher nur ein kleiner Teil der Eliten, der die Demokratie wieder auf den Stand des 19. Jahrhunderts bringen will (siehe Thomas Wagner: Angestrebter Systemumbau, http://www.jungewelt.de/2013/10-24/001.php). Dabei verschränken sich Demokratiefeindlichkeit mit demokratisch erscheinenden Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung. Allerdings – und da komme ich auf meine bisherigen Kommentare zurück – sollte man sich m. E. hüten, das gegenwärtige politische System als „lupenrein“ demokratisch zu bezeichnen, und da braucht man noch gar nicht an die ungehemmte Geheimdienstüberwachung denken, sondern allein an die soziale Ungleichheit und die damit verbundene Chancenungleichheit bezüglich politischer Partizipation der unteren Klassen.
Interessant fand ich die kritische Einschätzung von Marx‘ These vom absterbenden Staat. Denn ich glaube auch, dass die Forderung nach Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seiner Bürokratie wohl durchdacht sein müssen. Vor allem angesichts der heutigen Staatsverhältnisse mit einem hoch gerüsteten, eng mit den mächtigen gesellschaftlichen Gruppen (Medien, Großkonzerne, Kirchen) verbundenen Staates stellt sich die Frage, wie der Staat überhaupt abzuschaffen wäre. Außerdem gibt es auch positive Leistungen des Staates (Sozialstaat), wo im Falle einer Revolution zu fragen wäre, wie diese dann ersetzt werden sollten. Ich halte den Staat nicht für völlig verzichtbar, eine Entmachtung und stärkere demokratische Kontrolle aber für notwendig – das ist aber unter den jetzigen Bedingungen wohl utopisch, von daher muss man sich auch mit Revolutionstheorie beschäftigen. Was deine erste Frage angeht: Das fällt mir auch immer wieder auf, dass Bewegungen oder Theoretiker, die nach der Revolution rufen, kaum den Widerstand der Gegenseite mitdenken bzw. keine Antwort darauf geben, wie der erwartbare Widerstand der alten Kräfte zu bändigen ist. Es ist doch klar, dass kein Herrscher seine Herrschaft freiwillig aufgibt, v. a. wenn neue Kräfte eine völlig neue Ordnung etablieren wollen. Dies ist ein klares Defizit in vielen Revolutionstheorien.
Zu deiner zweiten Frage kann ich aus einer Vorlesung zur politischen Vorlesung Rousseaus, die ich dieses Semester besuche, berichten: Der Professor meinte nämlich, dass jeder philosophische Text einen Wahrheitsanspruch erhebt. Philosophie unterscheiden sich von allen anderen textbasierten Wissenschaften, dass die Wahrheit ihrer Texte nicht mit empirisch beobachtbaren Mitteln zu überprüfen sind. Ihre Wahrheit lässt sich nur anhand der Kohärenz der Sätze im Gesamtzusammenhang der Theorie/des Textes prüfen. Von daher ist deine zweite Frage wohl für jeden Philosophen qua Berufsüberzeugung nicht relevant. Die Frage kannst du nicht wirklich beantworten; du kannst bestenfalls danach schauen, ob der Wahrheitsanspruch im Rahmen der Gesamtargumentation berechtigt erscheint oder ob es Inkonsistenzen/Widersprüche gibt.
Spannend ist ja die dritte Frage, die auf Rousseau zurückweist. Kann der politische Wille des Souveräns mittels Wahl eines Repräsentationsorgans repräsentiert werden? Um es gleich zu sagen: Ich würde Rousseau weitgehend zustimmen und dies verneinen. Wenn 40 % der Deutschen die CDU wählen, kann nicht gesagt werden, dass 40 % der Deutschen das komplette (!) Programm der CDU umgesetzt sehen möchten. Manche werden die CDU gewählt haben, weil sie die Eurorettungspolitik gut finden und obwohl die CDU die Wehrpflicht abgeschafft hat (und ihre Wähler hätten gerne, dass es eine Wehrpflicht gibt) – oder anders herum. Manche wählen die CDU auch nur wegen der Persönlichkeit und beschweren sich dann in vier Jahren, dass ihnen die CDU-gemachten Gesetze überhaupt nicht gefallen und sie lieber dies oder das gehabt hätten. Will sagen: Es gibt keine Übereinstimmung zwischen dem Willen der Wähler und der praktizierten Politik der Gewählten. Obwohl seit Jahren eine Mehrheit einen gesetzl., flächendeckenden Mindestlohn will, keinen Bundeswehreinsatz in Afghanistan oder die Rente mit 67 – wurde dies bislang nicht im Parlament beschlossen. Trotzdem wählen die Leute die Parteien, die dies bisher blockieren.
Aber daraus ziehe ich nicht den Schluss, dass jetzt jeglicher Parteienzusammenschluss verboten sein sollte. Da hast du recht, da spricht die fehlende Egalität der Menschen völlig dagegen. Parteiorganisationen müssen sein, denn wie sollen ohne organisatorischen Zusammenschluss politische Verhältnisse grundlegend verändert werden (in allen Revolutionen gab es organisatorische Assoziationen: 1789, 1848, 1917)? Repräsentation ist nicht wirklich möglich, aber die Organisation der Menschen in Parteien (und die Wahlteilnahme von [revolutionären] Parteien) erscheint mir trotz der Bürokratisierungsgefahr unumgänglich. Die liberär-anarchistische Strategie erscheint mit da nicht sehr überzeugend. Wenn eine egalitäre, kommunistische Gesellschaft erst einmal etabliert ist, kann man über diese Frage noch mal neu nachdenken.
Vielen Dank für die (kritischen) Kommentare.
Ich hatte mit dem Rousseau-Part im Text (dt. S. 37-40) meine Schwierigkeiten, weil bei Bensaid nicht immer klar wird, ob er Rousseauf kritisiert oder eher zustimmt mit kritischem Unterton. So lese ich die Überschrift „Rousseaus Schuld?“ als rhetorische Frage, was für mich bedeuten würde, dass Rousseau nicht „wirklich“ schuld ist. Bensaid zeigt auf, dass Rousseau Demokratie mit der Eigentumsfrage gekoppelt hat, doch Rousseau es nicht komplett durchdacht hat (S. 37). Hier scheint Bensaid also Rousseau in gewisser Weise zu zustimmen. Im Abschnitt „Ein unwahrscheinliches Wunder“ hingegen referiert er am Anfang auf Rousseau, indem er vermutlich Zitate aus dem „Gesellschaftsvertrag“ zitiert (ohne sie klar zu kennzeichnen) und ich sehe dabei keinen Konjunktiv oder ähnliche sprachliche Distanzierung, die ausdrückt, dass man sich auf einen Autoren bezieht ohne zwangsläufig dessen Standpunkt zu teilen. So ist es z. B. „Damit der Gemeinwille mit Richtigkeit zum Ausdruck kommen kann, muß jede ‚Teilgesellschaft‘ (jede Partei!) im Staate ausgemerzt werden, damit ‚jeder Bürger nur seiner eigenen Meinung folgend urteilen kann‘ (S. 39).
Bensaid zeigt im nächsten Satz, dass dieser starke Bezug auf Vernunftbegabung schnell in eine staatsräsonistische Perspektive verfallen kann, doch er sagt nicht „[…] und daher ist das abzulehnen“ oder ähnliches. Das hat bei mir zur Irritation und zur obigen Frage geführt. Ebenso irritierte mich Bensaids Hinzufügung von „(jede Partei!)“. Da Bensaid die Irreführung und Manipulation von Menschen durch andere Gruppen eher als ideologisches als verschwörungstheoretisches Moment ansieht, aber den richtigen Gemeinwillen zum Ausdruck bringen will, scheint, so lese ich Bensaid hier, nur die Möglichkeit zu bestehen, dass „Teilgesellschaften/jede Partei“ zu verbieten seien.
Die Konflikte in der Gesellschaft sollen demnach nicht durch Interessengruppen kanalysiert und artikuliert werden, sondern durch jede(!) Person und ihre Meinung. Die Ablehnung von Interessengruppen und eine konflikthafte Gesellschaft schließen sich meiner Meinung daher nicht aus.
Damit würde ich euch Recht geben, dass Bensaids Frage nach der „Partei als Problem oder Teil der Lösung?“ eher eine rhetorische Frage ist.
Zur Machtübernahme: Ich hätte Bensaid da ein wenig „reformistisch“ gelesen 😉 Machtübername würde daher auch bedeuten, dass das „Absterben des Staates“ nicht nur(!) durch APO-Maßnahmen geschehen kann, sondern man auch in die Institutionen gehen muss, um sie von innen heraus zu verändern und „zum Absterben“ beizutragen. Das würde dann auch implizeren, dass „Machtübernahme“ nicht nur politisch geschieht, sondern auf breiterer gesellschaftlicher und kultureller Ebene stattfindet. Daher ist Machtübernahme bei Bensaid, so mein Gedanke dazu, nicht nur als „Sturz der Regierung und anschließende Revolution“ zu verstehen.
„Da Bensaid die Irreführung und Manipulation von Menschen durch andere Gruppen eher als ideologisches als verschwörungstheoretisches Moment ansieht“ (SW). Ich glaube, die Stelle, auf die du dich hier beziehst (S. 38), ist der springende Punkt. Wenn man sie so ließt, wie du es scheinbar tust, entsteht tatsächlich der Eindruck, die darauffolgenden Sätze – einschließlich dem zum Verbot der Parteien – spiegelten die Meinung Bensaids wieder.
Bensaid, so denke ich, sieht die „Irreführung und Manipulation von Menschen durch andere Gruppen“ gerade nicht als ideologisches Moment an. Zwischen Irreführung und Manipulation auf der einen Seite und Ideologie (im Sinne von „falsches“ Bewusstsein!) auf der anderen besteht ein entscheidender Unterschied. Der Begriff Manipulation impliziert, dass der-/diejenige, der/die manipuliert, bewusst (!) eine „falsche“ Äußerung tätigt. „Falsche“ Äußerungen, sind jedoch keine Manipulationen, wenn sie auf ein „falsches“ Bewusstsein zurückgeführt werden können, das heißt, wenn eine Person etwas „falsches“ sagt, weil sie selbst daran glaubt. Diesen zweiten Fall gibt es bei Rousseau nicht. „Falsche“ Äußerungen sind bei ihm immer Manipulation und Irreführung.
Ließt man dann den darauffolgenden Satz „Die logische Konsequenz davon [davon, dass Rousseau der Begriff der Ideologie fehlt] […]“ (S. 38) vor diesem Hintergrund, kommt man, denke ich, zu dem Ergebnis, dass es sich auch bei dem“ Verbot von Interessenzusammenhängen“ lediglich um eine kritische Rekonstruktion der rousseauschen Ansicht handelt und nicht um eine von Bensaid vertretene These.
Zur „Machtübernahme“-Debatte: Vielleicht nochmal etwas konkreter gefragt: Wann ist dieser Punkt der Machtübernahme für ihn? Sobald eine sozialistische Partei die absolute Mehrheit hat? Sobald die Regierung gestürzt wurde und der Aufbau des Sozialismus beginnt? Sobald die Mehrheit der Gesellschaft sozialistisch tickt?
Ich hätte ihn auch (radikal-)reformistisch gelesen, wäre nicht diese ominöse „Machtübernahme“, die für mich nicht nach einem Prozess (bei dem ja nicht feststellbar ist, wann denn eigentlich der Moment der Machtübernahme ist), sondern nach Sturm auf den Winterpalast (mit anschließendem Sozialismus von oben) klingt.
Schöner Beitrag und schöne Diskussion, die ich hiermit nochmal mit einem Hinweis zum Thema ‚Machtübernahme‘ erweitern würde. Vielleicht fehlt mir da die bessere Kenntnis von Ranciere, aber mir scheint es so, als würde in dem Teil vor Rousseau und der Machtübernahme vielleicht schon ein Hinweis stecken. Mit Ranciere macht Bensaid ja stark, dass ‚Demokratie als Politik‘ im Gegensatz zu ‚Demokratie als Ordnung‘ (wenn man das so nennen kann) durchaus etwas ‚gutes‘ ist. Demokratie als Ordnung scheint er mir hier mit dem Staat gleichzusetzen, der eher hemmt oder sogar repressiv ist. Politik ist für Bensaid etwas ereignishaftes und das demokratische an dem Ereignis scheint mir für Bensaid der Bezug auf ‚die Massen‘ zu sein.
Das Wort Machtübernahme benutzt Bensaid denke ich nur im Anschluss an Engels, den er hier zitiert. Ich würde seine Überlegungen eher im Lichte der Ausführungen zu Ranciere auf den Seiten 33 und 34 lesen. Hier sagt er mit Ranciere (von dem er sich hier nicht distanziert) Politik sei anarchistisch und eine ereignishafte Umstrukturierung des Denkbaren und Möglichen. Machtübernahme wäre dann eher ein Ereignis, das die bestehende Ordnung in Frage stellt und etwas neues ermöglicht. Von da aus wäre dann ein Prozess initiiert, der etwas neues zuließe und in dessen Zuge sich die demokratische Ordnung grundsätzlich verändern würde. Dann klingt es wieder etwas poststrukturalistischer und nicht mehr so orthodox-marxistisch 😉