Vorletzte Woche erschien der Kommentar zum ersten Teil des Aufsatzes von Daniel Bensaïd. Bevor ich mich nun den restlichen Seiten des Textes zuwende, seien einige zentrale Punkte des ersten Abschnitts noch einmal kurz ins Gedächtnis gerufen.
Bensaïd stellt ein weit verbreitetes Unbehagen gegenüber der Demokratie fest. In Sorge um Ordnung, Stabilität und nicht zuletzt das reibungslose Funktionieren des Marktes werde der Konflikt aus der Politik gedrängt, um einer „verwaltenden Vernunft“ Platz zu machen. Er setzt sich des Weiteren mit den Überlegungen Alain Badious auseinander, den er vor allem für dessen Ansichten über den Stalinismus kritisiert und kommt auf die Rolle des Staates zu sprechen. Dabei stellt er klar, dass das Verschwinden des Staates keineswegs, wie Marx häufig vorgeworfen wird, mit dem Ende der Demokratie einhergeht. Jedoch sei von der Formulierung „Abschaffung des Staates“ abzusehen, da dabei ausgeklammert wird, dass es sich vielmehr um einen Prozess, denn um eine Verordnung handelt. Schließlich widmet er sich Rousseau, den er dafür lobt, dass er als erster auf die Idee gekommen ist, eine Verbindung zwischen der Frage der Demokratie und der Frage des Eigentums herzustellen. Er zeigt aber auch, weshalb dessen Idee von einem Gemeinwillen in einer „demokratischen Sackgasse“ landet.
Im zweiten Teil behandelt Bensaïd nun zunächst das der Demokratie immanente Problem des grenzenlosen Zweifels. Muss – da es in einer Demokratie keine absolute Wahrheit, keine letzte Gewissheit gibt – die Demokratie selbst nicht auch in Zweifel gezogen werden und wie kann man sich aus dieser Notlage befreien, sind die Fragen, die er sich stellt.
Das Herstellen eines Zustandes, bei dem die Politik überflüssig geworden ist, sei nicht möglich, weil die Heterogenität der Gesellschaft ontologisch sei (S. 42). Leo Trotzki setze der Säkularisierung der Demokratie – was heißt, sich von jeglicher Transzendenz und letzten Gründen zu verabschieden – eine Grenze, in dem er den Klassenkampf zu einem letztgültigen Zweck erhebt. Bensaïd schließt sich dem jedoch nicht an und betont: „Der Interaktionsradius zwischen Zweck und Mitteln erlaubt keinen Fluchtpunkt; die politische Entscheidung ist zu einem Moment unvermeidlicher Ungewissheit verdammt. Wir sind Teil des Spiels, es muss gewettet werden“ (S. 43). An einer solchen Wette – dem demokratischen (Entscheidungs-)Prozess – soll, geht es nach Walter Lippmann, jedoch nicht die gesamte Bevölkerung teilnehmen. Es sei verfehlt zu glauben, „die Summe aller individuellen Ungewissheiten“ wäre im Stande „öffentliche Angelegenheiten zu lenken“. Einer der Gründe, weshalb es zu keinen optimalen Entscheidungen kommen könne, sei, dass nicht jede/r die Zeit hat, sich mit allen Problemen zu beschäftigen. Es komme zwangsläufig zu Desillusionierung und tyrannischer Einmischung und daher sei das Beste, wenn die Öffentlichkeit nicht an der Politik partizipiere (S. 44). Damit ist die Frage nach der idealen Demokratieform gestellt, in der es in den folgenden Abschnitten geht.
Im Gegensatz zu Jacques Rancière, für den Repräsentation und Demokratie gegensätzlich seien, würden Castoriadis und Lefort die Vorteile, die mit der repräsentatitiven Demokratie einhergehen betonen. Sie trage der „irreduziblen Heterogenität der Gesellschaft“ Rechnung, indem sie der Gesellschaft „relative Sichtbarkeit“ verleiht und das Aufkommen nich-korporativer Interessen ermöglicht und reagiere auch auf die „nicht miteinander harmonierende Vielzahl der sozialen Räume und Zeiten“ (S. 45). Dieses Problem, dass sich das Volk nicht ständig versammeln könne, um Entscheidungen zu treffen, kann Bensaïd zufolge nicht einfach beiseite geschoben werden. Daher sollte nach Lösungen gesucht, wie die bestmögliche Kontrolle der Wähler_innen über die Repräsentant_innen geschaffen und die „Professionalisierung der Macht“ begrenzt werden kann (S. 45).
Als eine weitere Möglichkeit, wie die Demokratie gestaltet werden kann, nennt Bensaïd das Losverfahren. Weil „die gute Regierung die Regierung derjenigen [ist], die das Regieren nicht begehren“ (Rancière), habe das Los gegenüber dem repräsentativen System einen Vorteil. Mit dem Einführung des Losverfahrens ginge Bensaïd zufolge die Abschaffung des Staates und – darauf weist er besonders hin – die Abschaffung „der Politik als Prozess der Beratung, aus dem Anträge und umzusetzende Projekte hervorgehen können“ (S. 47f) einher.
Bensaïd widmet sich in Rekurs auf Simone Weil auch der Frage, wie die Existenz politischer Parteien zu bewerten ist. Unter dem Eindruck der Geschehnisse in der Vergangenheit, bei denen sich Parteien zu totalitären Regimen aufschwingten, bildete sich die Position, dass das Parteiprinzip zu verwerfen sei. Bensaïd jedoch weist auf die andere Seite der Medaille hin: „da jegliche kollektive Autorität abgelehnt wird, beginnt jeder letztendlich, willkürlich seine eigene Autorität durchzusetzen“ (S. 51f). „Schafft man die Mediation der Parteien ab“, so Bensaïd weiter, „erhält man die Einheitspartei – sprich: den Staat – der ‚Parteilosen‘!“ (S. 53).
Im letzten Abschnitt hält Bensaïd fest, dass es eine Revolutionierung der Demokratie brauche, damit die Kritik an der jetzigen parlamentarischen Demokratie „nicht in Richtung autoritärer Lösungen und mythischer Gemeinschaften kippt“ (S. 54) und stellt abermals unter Bezugnahme auf Jacques Rancière fest, dass die Demokratie nur sie selbst sei, wenn sie skandalös ist.
Im Unterschied zum ersten Teil des Textes sind mir hier viele Punkte unklar geblieben. Fürs Erste möchte ich zwei davon kurz ausführen.
Eine Antwort auf das von ihm selbst aufgeworfene Problem, wie die Demokratie fixiert werden kann, wenn sie ihrem Wesen nach zum Zweifeln verdammt ist, bleibt er scheinbar schuldig. Seine darauf folgende These, dass die Demokratie säkularisiert werden müsse, bestärkt dieses Problem noch weiter, als dass es dadurch irgendwie gelöst wird. Akzeptiert Bensaïd damit diesen Widerspruch als unauflösbar?
Außerdem stellt sich mir die Frage, wie Bensaïd die Auslosung als Alternative zur repräsentativen Demokratie bewertet. Im Abschnitt zuvor scheint er sich aus pragmatischen Gründen gegen die direkte Demokratie und für die Repräsentation auszuspreche (jedoch mit verstärkter Kontrolle durch die Wähler_innen). Im Abschnitt zum Losverfahren stellt er aber auch den Vorteil der Auslosung gegenüber dem repräsentativen System heraus. Schwierigkeiten habe ich vor allem mit dem Punkt, dass das Los die Abschaffung der Politik „als Prozess der Beratung, aus dem Anträge und umzusetzende Projekte hervorgehen können“ bedeuten würde. Ist das ein Argument gegen das Losverfahren? Wie ist das überhaupt zu verstehen? Würden die ausgelosten Personen nicht genauso Politik betreiben, wie die heute gewählten Vertreter_innen auch?
Danke für die gute, weil das Wesentliche erfassende Zusammenfassung. Ich finde nur folgende Gedanken aus den Seiten 42f. hätten noch erwähnt werden können: Bensaïd unterstützt die These, dass Politik sich nicht auf das Soziale reduzieren lässt und dass das Soziale ein umstrittener Gegenstand der Politik ist. Somit wendet er sich gegen Gemeinschaftstheorien. Und zu Lippmann schreibt Bensaïd, dass die Summe des individuellen Nichtwissens Schwierigkeiten bei der politischen Entscheidungsfindung hervorrufen könnte, sondern dass sich aus dieser Unwissenheit der meisten Bürger auch die Idee, dass die Wahl Ausdruck eines richtigen Volkswillens sei, eine Illusion ist. Damit stellt Bensaïd bzw. Lippmann nicht weniger als den Sinn von Wahlen infrage. Damit komme ich auch auf meine früheren Kommentare zurück, die die Demokratie unseres deutschen politischen Systems hinterfragen. Demokratie setzt mündige, gut informierte Bürger voraus. Aber sind die Bürger so gut über alle für eine Wahl wichtigen Tatsachen und Meinungen informiert, dass sie eine verantwortungsvolle Wahl treffen können? Oder werden unsere (öffentlich-rechtlichen) Medien und Bildungssysteme nicht immer stärker ihren eigentlichen Funktionen beraubt, weil sie finanziell auf Sparflamme gesetzt werden? Die Bürger haben nicht nur zu wenig Zeit, um sich an Politik beteiligen zu können, sie werden auch zu schlecht gebildet und zu schlecht/manipulativ über die Medien informiert, um sich vernünftig an Politik beteiligen zu können (besonders was die prekarisierten Klassen angeht).
Bensaïd schreibt vom Problem, dass sich das Volk nicht ständig versammeln könne und daher eine direkte Demokratie nicht so praktikabel sei. Da frage ich mich, wieso wird direkte Demokratie mit dem ständigen (!) Versammeln aller (!) Bürger gleichgesetzt. Gut, Rousseau hat das ursprünglich auch so verstanden – abgesehen davon, dass der Bürgerstatus sehr exklusiv zu seiner Zeit war. Aber es kann doch vorstellbar sein, dass sich die Bürger, die betroffen sind und die sich dafür interessieren, nur einmal die Woche für einen Tag in ihren Kommunen versammeln, um dort für sie relevante Entscheidungen zu beraten und abzustimmen. Und mittels Internet gibt es ja auch technische Möglichkeiten, um dieses Problem zu überwinden – zumindest im Ansatz. Da sollte man theoretisch seine Ansprüche an direkter Demokratie etwas herunterschrauben, wenn man nach Alternativen zu repräsentativer Demokratie suchen will.
Nun zum Losverfahren: Das habe ich auch nicht so ganz nachvollziehen können. Ich glaube, Bensaïd hält die Auslosung für eine Alternative zum Gesetzesbeschluss per Mehrheitsvotum (siehe S. 47, letzter Absatz). Normalerweise verbindet man das Losverfahren ja mit einer alternativen Form zur Wahl von Ämtern. Hier ist es aber als eine Form der Gesetzgebung gedacht, und so könnte es zur Abschaffung „der Politik als Prozess der Beratung, aus dem Anträge und umzusetzende Projekte hervorgehen können“, dienen. Ich halte das aber für inakzeptabel, wieso sollte man Gesetzesbeschlüsse auslosen, nur weil einem das Mehrheitsprinzip der repräsentativen Demokratie nicht zusagt? Auf diese Weise würde Politik bzw. Gesetzgebung völlig irrational und dem Zufall unterworfen. Andererseits gebe ich Bensaïd recht, wenn er schreibt, dass die Zahl – also die Mehrheit – nichts mit der Wahrheit zu tun hat. Was eine Mehrheit beschließt, ist nicht automatisch die beste politische Lösung. Nur das gleiche träfe auch auf Beschlüsse per Losverfahren zu, von daher ist das keine bessere Alternative als das Mehrheitsprinzip.
Und wenn er Auslosung doch mit Ämter- bzw. Mandatswahl verbindet, dann will ich dazu nur sagen, dass per Los bestimmte Abgeordnete auch nur Repräsentanten sind. Deine Frage „Würden die ausgelosten Personen nicht genauso Politik betreiben, wie die heute gewählten Vertreter_innen auch?“ wäre dann im Prinzip auch beantwortet: Wahrscheinlich schon, mit der zusätzlichen negativen Komponente, dass die Repräsentierten überhaupt nicht beeinflussen können, wer sie repräsentiert (die Mehrheiten wären völlig unberechenbar); das können viel bessere Repräsentanten sein (vielleicht gibt es dann mal klarere linke Mehrheiten), aber unter Umständen könnte man einen Bundestag voller dummer, egoistischer Bürger bekommen (schlimmstenfalls große Anteile von Faschisten/Rechtspopulisten).
Und ein letzter Kommentar zum Abschnitt von Simone Weil, deren Idee, sogar Lesern von Zeitschriften zu verbieten, sich in Freundeskreisen zu organisieren, und strafrechtlich zu verfolgen, ich totalitär empfinde. Daher überrascht es mich nicht, dass Trotzki sie für „ganz und gar reaktionär“ hielt (siehe Wikipedia-Eintrag von Weil). In diesem Abschnitt schreibt Bensaïd, dass in liberalen Demokratien Parteien unverzichtbar sind. Dem würde ich zustimmen. Die spannende Frage, ob in sozialistischen Gesellschaften Parteien ebenfalls notwendig sind, beantwortet er nicht. Er zitiert Lenin, der Politik in Klassenverhältnissen bestimmt sieht, die sich im Kampf der Parteien (der jeweiligen Klassen) ausdrücken. Aber was ist, wenn die Gesellschaften unter dem Banner des Sozialismus homogener werden und Klassenunterschiede wenn schon nicht abgeschafft, so doch wenigsten reduziert werden? Brauchen wir noch mehrere Parteien oder wären die Einheitsparteien a la SED und KPdSU noch vorbildhaft? Vielleicht wäre eine Einheitspartei akzeptabel, solange die Meinungsfreiheit gesichert und die Macht der Partei durch eine starke, lokal verankerte Rätedemokratie beschränkt wird? Einem Staat der Parteilosen gegenüber wäre ich genauso skeptisch eingestellt wie Bensaïd, denn Parteilose sind in aller Regel doch irgendwelchen Ideologien verhaftet, die sie unter dem Etikett der Parteilosigkeit verstecken.
Hallo,
auch von mir ein Dankeschön für die Zusammenfassung und die Fragen, die ihr euch gestellt habt. Die kann ich nachvollziehen und teile sie auch. Als persönliche Einschätzung kann ich dem noch hinzufügen, dass ich enttäuscht vom zweiten Teil bin, weil Bensaid dann doch etwas sehr simpel seine Idee skizziert. Oder nicht simpel, sondern eher wenig originäl. Das Demokratie permament in Bewegung und zweifelnd sein soll, und sich doch durch eine (oder mehrere?) Parteie(n) institutionalisieren soll und somit ein Spannungsverhältnis aufgebaut wird, welches offenbar nicht zu lösen ist, haut mich jetzt nicht vom Hocker (um es mal so frei zu formulieren). Ranciere, auf den Bensaid immer wieder verweist, sagt eigentlich nicht viel anderes, außer, dass Ranciere den Parteiengedanken nicht wirklich teilen würde, glaube ich. Und wenn ich mich an meine knappe Lektüre von Etienne Balibar erinnere, argumentiert er in eine ähnliche Richtung. Das ist nicht verwerflich, dass das Bensaid macht, aber es klang im ersten Teil irgendwie neuer als das was er nun als Fazit am Ende des zweiten Teils vorschlägt.
Die rhetorische Frage, die im ersten Teil aufkam (Partei als Problem oder Lösung?), beantwortet Bensaid also doch noch klar, aber für mich stellt sich die Frage, woher dieser Optimismus für den Parteiengedanken kommt? Ich weiß nicht, ob Bensaid Robert Michels Werk zur Parteiengeschichte und dem „Ehernen Gesetz der Oligarchie“ kennt (dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Ehernes_Gesetz_der_Oligarchie), aber Bensaids Vertrauen, dass eine Partei die Spannung aus Institutionalisierung und Selbstzweifel wirklich aushält, erscheint mir doch zweifelhaft. Hier wäre, aus meiner Sicht, eher zu fragen, inwiefern neue Institutionen wie (neue) soziale Bewegungen zu Bensaids Idee einer Demokratisierung passen. Diese scheinen aber für Bensaid nur am Rand eine Rolle zu spielen, oder?!
Zur Idee des Losverfahrens, welches ich auch skeptisch sehe, möchte an dieser Stelle nur auf ein Panel verweisen, wo das interessant und ausführlich besprochen wurde und wo unter folgendem Link eine knappe Zusammenfassung zu finden ist: http://blogs.uni-bremen.de/resonanz/2013/10/07/demokratie/ (Teil: Konferenz-Panel 4 – Losverfahren in der Demokratie).