Demokratie (Teil IV) – Brown: Wir sind jetzt alle Demokraten

Wendy Brown stellt die Beobachtung eines paradoxen Phänomens an den Anfang:  die Demokratie sei heute mehr denn je durch alle politischen Spektren populär  – „Berlusconi und Bush, Derrida und Balibar, italienische Kommunisten und Hamas – wir sind jetzt alle Demokraten“ (S.56) – , zeitgleich zeige sie sich jedoch substanzärmer denn je.

Aus dem griechischen Begriff der Demokratie gehe zunächst nur hervor, dass sich ein Volk selbst regiere und das Ganze (gegenüber dem Teil) politisch souverän sei.  Dies setzte lediglich zweierlei voraus: zum einen muss es ein Volk geben, zum anderen muss dieses Zugang zu den Gewalten haben, die es demokratisieren soll (62). Damit leite sich das euro-atlantische liberale Modell basierend auf Partizipation, Repräsentation, freien Märkten, gleichen Rechten oder Verfassungen keineswegs automatisch aus diesem Begriff ab. Aktuelle Entwicklungen stellen für Wendy Brown jedoch gerade den demokratischen Gehalt dieses Modells infrage.

Die jüngsten die liberale Demokratie gefährdenden Entwicklungen

Nach Brown sei die liberale Demokratie Konstellationen und Kräften unterworfen, welche ihre Substanz aushöhlten. Verantwortlich dafür seien fünf Entwicklungen.

1. Mit der steigenden Macht der Konzerne verschmelze die staatliche Macht mit einer unternehmerischen. Sowohl personal als auch im Aufgabenbereich verblasse die Grenze zwischen staatlichem und unternehmerischem Handeln. Dem gegenüber bliebe ‚die breite Masse‘ als der Demos  passiv und könne diese Entwicklungen nicht mehr verstehen.

2. Aus den freien Wahlen als „Ikone der Demokratie“ (58) werde ein Zirkus von Marketing und Management. Der Wahlkampf werde zum Medienspektakel, das politische Programme als Konsumgüter verkaufe und das politische Leben werde auf medialen und marktwirtschaftlichen Erfolg reduzierbar.

3. Die neoliberale Rationalität, gekennzeichnet durch Werte der Kosten-Nutzen-Verhältnisse, Effizienz, Rentabilität und Effektivität, greife die Fundamente der liberalen Demokratie an. Dank ihr ließen sich der Zugang zu Informationen, Rechte und die staatliche Offenheit und Verantwortlichkeit beiseiteschieben. Durch diese Rationalität werde der Staat selbst zu einem Unternehmen und damit der Demos entthront (59). Zusätzlich erlaube sie eine Ausweitung der Exekutivgewalt, wenngleich die Souveränität im Schwinden begriffen sei.

4.  Neben der Ausdehnung der Exekutivgewalt zeige sich auch eine Machtzunahme der Gerichtshöfe. Diese übernähmen zunehmend legislative Aufgaben, was einer Subversion der Demokratie (60) entspreche. Gleichzeitig bedienten sie sich einer solch fachspezifischen Sprache, dass ihre Entscheidungen für den Demos nicht mehr verständlich wäre.

5.  Die Globalisierung begrenze die nationalstaatliche Souveränität. Transnationale Ströme von Kapital, Menschen, Ideen, Ressourcen etc. zersetzten zum einen die Grenzen und manifestierten sich zu  Mächten im Inneren. Die Entnationalisierung bedeute zugleich die Entdemokratisierung, denn für die Herrschaft des Volkes bedürfe es einer eigenständigen und begrenzten Einheit.

Den zunehmenden Fokus auf Sicherheit von Staaten als Indiz für das Wiederaufleben der staatlichen Souveränität zu werten sei falsch; diene der Sicherheitsfokus  doch vermehrt der Rechtfertigung demokratieschädlicher Maßnahmen wie der Aufhebung der Reise- und Informationsfreiheit und dem racial profiling.

2. Die Infragestellung der theoretischen Prämissen der liberalen Demokratie.

Es seien nicht zuletzt nur die skizzierten Entwicklungen, die das liberale Modell gefährdeten, zweifelhaft sind für Brown auch die theoretischen Prämissen, die diesem Demokratieverständnis vorausgehen.

Die moderne Demokratie gründe sich auf dem (rousseauschen) Gedanken, dass nur in der Demokratie die individuelle Freiheit erhalten bleiben könne, da die Menschen Urheber der Mächte seien, die sie regierten.  Dem ginge die Idee voraus, dass der Mensch von Geburt an ein freies moralisches Subjekt sei und Freiheit ein allgemein menschliches Verlangen darstelle. In der modernen Demokratie sei die normative Idee der Selbstgesetzgebung grundlegend für die Verwirklichung der Freiheit des Einzelnen. Die Souveränität des Subjekts sei mit der Souveränität des Gemeinwesens verknüpft und sie sicherten sich gegenseitig ab (65).

Browns Kritik setzt an der voraussetzenden Idee des a priori freien moralischen Subjekts an. Es gebe ein „ganzes Spektrum uns formender und lenkender Kräfte und Diskurse“ (66), welche uns erst als Subjekte konstituierten. Macht (wie sie unter anderem auch vom Kapital ausgeht) und Herrschaft ließen sich nicht einfach der Freiheit gegenüberstellen, sondern sie formten unsere soziale Welt, unsere Wahrnehmung und unsere Normen, von denen ausgehend wir meinen, uns frei entscheiden zu können.  Damit stellt Brown das liberale Modell der Selbstgesetzgebung durch Zustimmung zu den Gesetzen oder Vertretern infrage. Die Vorstellung, man könne alle diese Faktoren kontrollieren und demokratisieren sei absurd. In Wirklichkeit ließe sich die Demokratie nur als ein unerreichbares Ziel vorstellen, als ein fortwährendes politisches Projekt.

Schließlich stellt Brown noch die Annahme infrage, dass die Menschen nach Freiheit streben. Die Geschichte der letzten Jahrhunderte weise doch gerade darauf hin, dass die Mehrheit der  Menschen lieber  moralisiere, konsumiere und sich anpasse, anstatt sich der Aufgabe zu stellen, Autor des eigenen Lebens zu sein.  Von diesen Menschen, den „Nichtdemokraten, die man in demokratischen Gehäusen leben lässt“(69) gehe die Gefahr eines Faschismus durch das Volk aus. Es sei nicht zu erwarten, dass sie für ihre eigene Freiheit oder Gleichheit stimmten.

Möglichkeiten

Der Ausblick Wendy Browns bleibt vage.  Sie fordert statt Parolen ein intensives Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie. Allem voran stellt sich die schwierigste Frage:  „Wie kann der Demos selbst die Mächte identifizieren und nach ihnen greifen, die gemeinsam gemeistert werden müssen, wenn Demokratie mehr sein soll als nur die legitimierende Fassade für ihre Umkehrung?“ (71). Dabei ist es für sie nicht selbstverständlich, dass dies gelingen muss.  Brown stellt durchaus die Möglichkeit in den Raum, dass es vielleicht auch andere nicht völlig abschreckende Regierungsformen geben könnten, die für das 21. Jahrhundert besser geeignet wären.

Eigene Bemerkungen:

Die obrige Unterteilung  des Artikels  entstammt meinen eigenen Überlegungen eines roten Fadens. Beim Lesen blieb mir häufig unklar, worauf Brown in ihrem Artikel abzielt. Zum einen argumentiert sie mit dem ursprünglichen griechischen Demokratiebegriff und zeigt auf, dass das liberale Modell nicht zwangsläufig aus diesem hervorgehen muss, anschließend legt sie wiederum die Entwicklungen dar und zeigte sie Gefährdungen  dieses liberalen Modells auf. So stellt sich mir doch mehr als einmal die Frage, worauf sie eigentlich hinaus will. Stellt dieser Artikel das liberale Demokratieverständnis an sich infrage oder richtet er sich gegen dessen Gefährdung? Wie verhält sich das Ganze zu dem Titel des Aufsatzes?

In der Zusammenfassung habe ich ferner den Abschnitt über den Antiuniversalismus der Demokratien ausgespart, weil mir auch an dieser Stelle der Kontext dieses Gedankens unklar blieb.  Will sie damit die anfänglich erwähnte Popularität des Demokratiebegriffs aufgreifen?

Auf Seite 63 führt Brown an, dass die Idee und Praxis von (liberaler?) Demokratie in ihrer         Geschichte mit dem Ausschluss von weiten Teilen der Bevölkerung verbunden war. Durch das ‚nichteingegliederte Substrat‘ (63) konstituiere die Demokratie ein verschlossenes Inneres    und werde materiell gestützt. Gleichzeitig wurde historisch immer eine Außengrenze           konstituiert, eine ‚nichtdemokratische Peripherie‘ (63): von den Barbaren in der Antik  zum       Kommunismus  bis hin zum Islamismus.  Damit sei der Demokratie der Antiuniversalismus       inhärent. Dieser gehe davon aus, dass „wenn der imperiale Traum einer Universalisierung der Demokratie Wirklichkeit würde, er nicht die Form der Demokratie annähme“ (64).

Ferner blieb für mich fraglich, inwieweit hinter dem verschlossenen Inneren und der Außengrenze eine Notwendigkeit für die Demokratie liegt. Und worauf liefe eine Universalisierung der Demokratie tatsächlich hinaus?  An dieser Stelle hätte ich mir eine Erläuterung ihrer Vorstellung der Universalisierung und der Mechanismen, durch welche das nichteingegliederte Substrat die Demokratie materiell gestützt werde, erwünscht.

5 Gedanken zu „Demokratie (Teil IV) – Brown: Wir sind jetzt alle Demokraten“

  1. Danke für diese gute Zusammenfassung. Ich muss gestehen, dass mir der Beitrag von Brown von den bislang gelesenen am besten gefallen hat (trotz gewisser Schwächen, die du am Ende auch nennst) und ich deine Kritik des fehlenden roten Fadens nicht teilen kann.
    Brown macht zunächst die richtige Feststellung, dass es kaum noch jemanden gibt, der sich offen zu nichtdemokratischen Herrschaftsformen bekennt. Zu sagen „Ich will keine Demokratie“ o. ä. wäre in etwa so, wie in den 1950er Jahren in den USA zu sagen, man sympathisiere mit marxistischen Ideen. Wenn aber alle Demokratie wollen, dann kann wohl kaum angenommen werden, dass alle das Gleiche unter Demokratie verstehen. So kommt Brown logisch zur Definition von Demokratie und geht wenig originell (was aber nicht schlecht/verwerflich ist) von der antiken Bedeutung aus und weist zurecht auf die Vieldeutigkeit des Begriffs bzw. seiner Interpretation hin. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Unser liberales Demokratiemodell ist doch nicht die einzig mögliche Form von Demokratie. Demokratie ist zunächst ganz schlicht Selbstregierung des Volkes, dazu bedarf es nicht zwingend Repräsentation oder Verfassungen – da stimme ich Brown noch zu. Wenn sie sagt, dass Demokratie auch nicht zwingend mit Partizipation und Gleichheit einhergehen muss – da wird auch meine Vorstellungskraft leicht überstrapaziert, v. a. da sie am Ende, wie du schreibst, sehr vage bleibt beim Aufzeigen von alternativen zur jetzigen liberalen Demokratiekonzeption.
    Die Darstellung der Entdemokratisierungsphänomene finde ich eine schöne kompakte Zusammenfassung des Demokratiemangel-Elends, die viele wesentliche Punkte enthält. Ihre Schlussfolgerungen auf Seite 61 (Absatz „Wenn Staaten im Zustand …) habe ich leider nicht begriffen – wenn mir das jemand erklären könnte, wäre das toll.
    Die Ausführungen zum Antiuniversalismus finde ich sehr bedenkenswert und anregend und würde ich auf keinen Fall zu kurz kommen lassen. Dass Demokratien sich in ihrer Geschichte immer auf ein verschlossenen Innen und ausgegrenztes Außen bezogen haben, und dass bis heute, ist doch wirklich eine paradoxe Situation. Ich würde zwar sagen, dass das „Innen“ heutzutage durch Frauenwahlrecht, Abschaffung der Sklaverei etc. wesentlich größer ist als in der Antike, aber es gibt immer noch Gruppen, die kaum an der Demokratie teilhaben: zum einen weil sie es rechtlich nicht dürfen (Asylbewerber, Ausländer allg.), zum anderen (und da sind wir wieder bei den Problemen der liberalen Demokratieform) weil ihnen die benötigten Ressourcen in unserer Klassengesellschaft geraubt werden (Bildung, Einkommen) bzw. weil sie sozial/politisch ausgegrenzt werden. Und ich würde ihr rousseauistisches Argument, dass Demokratie vor allem in kleineren, begrenzten Räumen sinnvoll ist, hervorheben. Eine demokratische EU zu organisieren ist schon schwierig, aber wenn ich dann Visionen von kosmopolitischer Demokratie höre, die die Nationalstaaten abschaffen wollen (und zur Dominanz von Eliten/mangelnden Einflussnahme-Möglichkeit des einfachen Bürgers in großen Institutionen kein Wort verlieren) etc., dann könnte ich immer den Kopf schütteln.
    Auch ihre These, dass Menschen gar nicht in Freiheit leben wollen und ein Faschismus durch das Volk drohe, finde ich höchst anregend und nachdenkenswert. Wir an unseren Universitäten sehen natürlich viele postmateriell eingestellte Menschen, die sich stark für Politik interessieren und sich in verschiedenen Gruppen politisch und gesellschaftlich engagieren – denen ist die Freiheit sehr wichtig. Aber schaut man mal in die Gesellschaft insgesamt, mal ehrlich gefragt: Welcher Kfz-Mechatroniker, Bäcker-Azubi oder auch welche arbeitslose alleinerziehende Mutter ist primär daran interessiert, dass sie in der Gesellschaft frei ihre Meinung äußern kann, sich politisch betätigen und demonstrieren kann? Geht es nicht sehr vielen Menschen immer noch in erster Linie um eine materielle Absicherung? Gerade heutzutage unter der zunehmenden Unsicherheit von Arbeitsplatz und geregeltem Einkommen wäre das nur zu verständlich. Freiheit ohne Sicherheit der Lebensgrundlagen ist m. E. genau so wenig wert wie Freiheit ohne Gleichheit. Ich würde aber Brown widersprechen, wenn sie Demokratie ohne Freiheitsrechte und Gleichheit vorstellbar hält.
    Ich verstehe ihren Beitrag als radikale Kritik des liberalen Demokratiemodells und als Appell, nach alternativen Demokratiemodellen zu suchen, sich den Grenzen von Demokratie bewusst zu sein und dabei nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft zu bleiben, sondern als Theoretiker in die Praxis zu gehen und mit den Mächten, die die Bedingugnen für Demokratie zerstören (Stichwort: die Wirtschaftseliten/Kapitalisten), den Konflikt zu suchen. Da hat mir der letzte Abschnitt gefallen, als sie die Lobgesänge auf die Demokratie auch der linken Philosophen kritisiert, die die Feinde wirklicher (nichtliberaler oder republikanischer) Demokratie nicht in Wort und Tat angreifen.

  2. Vielen Dank für die schöne Zusammenfassung und den Kommentar, fande ich beides wirklich gut gelungen.
    Browns Beitrag fand ich vor allem vom Duktus her bislang am verständlichsten, auch wenn mir an vielen Stellen die Verbindung zwischen einzelnen Argumenten und Überlegungen gefehlt hat (Stichwort: Roter Faden). Liegt wahrscheinlich auch an der Kürze des Beitrags, die wiederum auch ein Vorteil für die Aufmerksamkeit beim Lesen war.
    Im Kommentar vor mir wurde ja schon gesagt, dass, und ich finde das kann man nochmal bekräftigen, die Argumentation von Brown eigentlich nicht gerade weltbewegend, aber gerade deshalb auch nicht schlecht ist. Sie macht im Grunde drei Argumente. 1. Demokratie vom Begriff und und der Idee her kann auch anders aussehen als undere marktwirtschaftliche Demokratie heute. 2. Das, was man an unserer heutigen Demokratie wenigstens noch als ‚demokratisch‘ bezeichnen kann, ist in Gefahr. Die fünf von Brown angeführten Gründe dafür sind in dem Blogbeitrag perfekt herausgearbeitet worden. 3. Das Subjekt ist nicht die universelle Voraussetzung der Demokratie, kann also auch nicht die Rechtfertigung für eine demokratische Ordnung sein. Subjekte sind im Gegenteil immer durch Macht und Herrschaftsbeziehungen hervorgebracht (im Grunde Foucaults Machtverständnis).
    Das zweite Argument passt nicht so hunderprozentig in den dann doch grundsätzlich kritischen Tenor des gesamten Beitrags. Hier scheint es tatsächlich zeitweise so, als wolle Brown die liberale Demokratie verteidigen. Gerade vor dem Hintergrund des ersten und dritten Arguments stehen wir natürlich gedanklich eher wieder bei ‚Null‘, sind also eigentlich genötigt Demokratie grundlegend zu überdenken. Obwohl ich anfangs eher verwundert war über diese ‚Doppelstrategie‘ finde ich sie bei näherer Betrachtung eigentlich nicht unklug. Statt von ‚kritischer Seite‘ immer nur auf die liberale Mainstreamtheorie einzuhauen, kann man die auch mal beim Wort nehmen und dann empirisch gegen sich selbst wenden. Solange man nicht, was Brown ja dann auch nicht tut, in eine reine Affirmation der liberalen Demokratie abrutscht, ist das argumentativ ganz gut. Es kann von den bestehende Paradoxien zwischen Ökonomie und Demokratie hin zu der Erkenntnis leiten, dass die bestehende wirtschaftliche Ordnung und eine ‚wirkliche‘ auch liberale Demokratie vielleicht nicht so ohne weiteres miteinander zu vereinbaren sind.
    Zu einem Punkt aus dem letzten Kommentar möchte ich noch kurz etwas anschließen. Und zwar wenn es um die Frage geht, ob die Leute ‚frei‘ sein wollen. Ich lese das Argument so, und das schließt an das dritte von mir angeführte Argument Browns zum Subjekt an, dass wir nicht einfach sagen können „Der Mensch strebt a priori nach Freiheit und in der Demokratie ist diese Freiheit dann ausgedrückt.“ Die jüngere Geschichte hätte, so Brown, gezeigt, dass die Menschen vielleicht garnicht frei seien wollen. Dass sie dann mit der Frankfurter Schule kommt (obwohl es mich wundert, dass sie da den ‚optimistischen‘ Marcuse anführt und nicht etwa Adornos Negative Dialektik) ist wenig verwunderlich. Dort ging es ja genau darum zu theoretisieren, wie die bestehende Gesellschaftsordnung Freiheit und Selbstbestimmung unmöglich macht. Es geht Brown also um den objektiven Widerspruch, dass die Leute ihre eigene Unterwerfung begehren, oder? Wie ist das möglich? Ich würde das nicht als Problem bestimmter Klassen oder Schichten verstehen, sondern eigentlich als Grundproblem unserer Gesellschaft. Ich glaube, und ich lese das zum Teil bei Brown auch, dass man Freiheit nicht als Wert, sondern als Fähigkeit verstehen muss.
    Deshalb wäre für mich die wichtigste von den vielen Fragen am Ende von Browns Artikel auch: „Ist die Freiheit, welche die Demokratie verspricht, etwas, das die Menschen wollen oder wieder zu wollen gelehrt werden können?“ (71) Ich würde allerdings behaupten, dass es nicht um ein wiedererlernen von Freiheit geht (wann waren die Menschen freier? 1900? 1560? kann man das messen?), sondern dass es hier ersteinmal um die Befähigung zu Freiheit geht. Dazu muss neben Bildung usw. natürlich auch materielle Absicherung zählen. An dieser Stelle wird es dann auch politisch haarig, denn dann stellt sich die Frage, ob unsere Gesellschaftsordnung zur Freiheit befähigte Subjekte überhaupt aushält, oder ob diese sie dann abstreifen, wie eine zu klein gewordene Hülle. Ich würde Browns zentralem Problem schlussendlich zustimmen: Die Frage ist, welche Regierungsform, welche Machtverteilung und welche Form von (oder ob) Demokratie dieser zukünftigen Wirklichkeit entsprechen mag.

    1. Deinen Kommentar zum Thema „wollen Menschen Freiheit“ find ich sehr erhellend, genauso ist es auf den Punkt gebracht. Ich würde behaupten, der jetzige Staat und seine Eliten sind nicht an zu Freiheit befähigten Menschen interessiert. Der Zustand der politischen Bildung, vor allem der Erwachsenenbildung ist erschreckend, es gibt kaum Sachprobleme, die von der Regierung aus bzw. von den großen Parteien (von den Grünen mal halbwegs abgesehen), die richtig politisiert werden. Aber ich fände es auch interessant über dieses Thema irgendwas zu lesen – gibt es dazu Studien?
      Ich wollte aber noch etwas anderes zu deinem Kommentar ergänzen und dabei Wolfgang Abendroth heranziehen (siehe http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_25-2010_web.pdf); nämlich zur Kritik an der liberalen Demokratie. Abendroth hat immer die bürgerliche Demokratie und ihre Freiheiten verteidigt, denn historisch betrachtet sind die bürgerlichen Freiheiten trotz ihrer sozialen Unzulänglichkeiten ein großer Fortschritt gegenüber Feudalismus, Absolutismus oder gar Faschismus. Ich meine Abendroth hat recht, wenn er ganz emphatisch die liberalen Freiheitsrechte verteidigt und Linke tun gut daran, diese einmal errungenen Rechte gegen neoliberale und neofaschistische Angriffe zu verteidigen, denn im Krisenfall sind wohl die Sozialisten/Kommunisten die einzigen, die diese Rechte noch verteidigen (so war es zumindest am Ende der Wemarer Rep.). Von daher ist auch die These vom absterbenden Staat heute hoch problematisch, wenn sie nicht von jeher unrealistisch war.
      Mein Appell also: Der Liberalismus ist heute nicht mehr der fortschrittlichste theoretische Standpunkt und muss zurecht für seine Mängel kritisiert werden, doch wenn es ernst wird und unsere mangelhafte Demokratie in Gefahr gerät, dann muss (um es historisch zu formulieren) eine Einheitsfront von Liberalen bis Kommunisten stehen, um sie zu verteidigen.

  3. Ich schließe mich den anderen Kommentaren an und bedanke mich für die Zusammenfassung und kritischen Fragen im Beitrag und in den Kommentaren!
    Zwei Anmerkungen zuerst: Ich wundere mich nicht, dass sie Marcuse statt Adorno nimmt, weil auch Marcuse nicht durchgängig positiv ist. Gerade seine Diskussion zum Freiheitsverständnis liest sich, für mich, schon sehr resignativ wenn er auf die Transformation von Kultur(industrie) eingeht und wie Menschen konsumieren ohne den „Willen zur Freiheit und Selbstbestimmung“ haben zu wollen (um das mal etwas emphatisch auszudrücken 😉 Aber das nur nebenbei.
    Der Punkt des inhärenten Antiuniversalismus der Demokratie fand ich auch sehr interessant zu lesen. Ich weiß nur nicht, ob diese Bezugnahme auf „umso kleiner das Territorium, umso demokratischer“ ich wirklich teilen kann. Auch in kleinen Gemeinschaften kann es zu Exklusion und Machtungleichheit kommen und demnach die Demokratie nicht voll existent sein (siehe auch existierende Kleinststaaten wie Liechtenstein, Singapur oder Katar) . Das hat aus meiner Sicht nichts mit Demokratie als Form zu tun, sondern mit der von Brown angesprochenen Demokratisierung als Regierungstechnik (weswegen ich auch andersherum auch eine „kosmopolitische Demokratie“ nicht für unmöglich halte). Wird Demokratie als Demokratisierung begriffen, kann auch substantieller etwas über Verschiebungen im Machtbereich gesagt werden (Wer hat die Macht um zu demokratisieren und wer macht es nicht und welche Interessen stehen dahinter) als wenn wie bei Crouch’s „Postdemokratie“ ein früherer Zustand (1970er in westlich-kapitalistischen Staaten in Europa) idealisiert wird.
    Was Brown und meinem Gefühl nach derzeit viele Theoretiker/innen (mir fällt z. B. Wolfgang Streeck noch ein) in Bezug auf „die“ Demokratie eint, ist die fast schon selbstverständliche Annahme der Passivität der Bürger/innen (bei Brown z. B. S. 58; 62). Alle Bürger/innen würden sich ihrem Schicksal ergeben, würden alles ertragen und lieber konsumieren als aktiv werden. Sprich: Die Bürger/innen werden zum Zuschauer der Politik/Demokratie und damit zum Objekt von Wirtschafts- und Politikeliten bzw. zum Objekt „der neoliberalen Rationalität“ von Brown degradiert. Ich finde diese „Lesart“ nimmt die gegenwärtige Hegemonie der Demokratieverdrossenheit und Gefährdung der Demokratie auf, aber halt auch nur sie. Sie vergisst das Marginalisierte, das Subversive, das Gegenhegemoniale welches es in Demokratien gibt. Die Proteste auf der Straße gegen eine ungerechte Demokratie, die alternativen Zentren, die andere demokratischen Praxen ausprobieren, politische Gruppen, die aktiv werden ohne Repräsentationsanspruch, Kochkollektive oder Hausbesetzungsgruppen u. v. m. tauchen bei Brown nicht. Damit tauchen auch die vielen Aktiven, die für eine Demokratisierung streiten nicht auf; im Gegensatz zu den passiven Bürger/innen.
    Ich will nicht bestreiten, dass ein Blick auf die Hegemonie und die zunehmende Passivität von Menschen falsch ist, aber ein Abwägen und Wahrnehmen des Nicht-Hegemonialen hilft möglicherweise um einen Text wie den von Brown, nicht mit (resignativen) Fragen sondern mit Alternativen zu beenden.

    1. Späte aber nicht weniger kräftige Zustimmung für deinen letzten Punkt. Ich denke, dass ist ein bisschen ein allgemeines Problem von kritischen Theorien, oder? (Vielleicht kann man das am Ende unseres Lesekreises besser bewerten.) Es scheint immer, als gäbe aus kaum Aussichten auf Änderung, so als existierten die vielen kleinen Widerstände und subversiven Entwicklungen und Handlungen garnicht, die sich trotz bestimmter Hegemonien nicht unterbinden lassen. Eine ‚gute‘, ‚praktische‘ kritische Theorie müsste eigentlich von diesen Unruheherden innerhalb der bestehenden Ordnung ausgehendend nach Möglichkeiten zur Veränderunge fragen.

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