1. Die Bedeutungslosigkeit der Demokratie und der Dualismus der Politik
Die Frage, ob es Sinn hätte, sich als Demokraten zu bezeichnen, beantwortet Nancy sowohl mit ‚Nein‘ als auch mit ‚Ja‘. Mit ‚Nein‘, da es nicht mehr möglich sei, sich als etwas Anderes zu bezeichnen, und somit der Begriff zur Bedeutungslosigkeit verkommen ist und nicht mehr hinterfragt werden kann; und mit ‚Ja‘, da Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit von allen Seiten durch Plutokratien, Technokratien und Mafiokratien bedroht seien.
Diese Bedeutungslosigkeit der Demokratie rührt nach Nancy von den zwei Seiten her, die sie vereint: Die eine bezeichnet die Bedingung der möglichen Regierungs- und Organisationspraktiken ohne transzendentes Prinzip; die andere die Idee des Menschen und der Welt, die eine aus sich selbst hervorgehende Transzendenz, eine vollständige Autonomie postuliert. Demokratie als Versprechen für Freiheit und Gleichheit, die den Menschen als Ganzes erfasst und auf eine neue Stufe hebt. Diese Ambivalenz geht auf den Dualismus der Politik zurück. Es geht um die Regelung des gemeinsamen Lebens einerseits und um „eine quasireligiöse Aufwertung des Sinnes oder der Wahrheit dieses Lebens“ (S. 74) andererseits. Wobei die Politik mal klar abgegrenzt ist und mal die Totalität über das ganze Leben sucht und damit ein Begehren der Politik verkörpert, sich selbst zu überwinden.
2. Die Unbegründbarkeit der Demokratie und ihr Ersatz
Nancy definiert den Beginn der Politik mit der Politeia und dem Verschwinden des Gottkönigs und verweist bei anderen Zuständen auf die Existenz reiner Macht. Die Demokratie als Form der Politik steht somit gegen die Theokratie und auch gegen das überkommene Recht. Sie muss stattdessen ein neues Recht und dessen Grundlage neu erfinden, was bis heute andauert – und auch nicht abgeschlossen werden kann. Die Demokratie mit der Souveränität des Volkes als Basis sieht Nancy jedoch weder im Logos noch im Mythos begründet. Stattdessen, so hebt er hervor, ist die Demokratie unbegründet, was gleichzeitig sowohl ihre Schwäche als auch ihre Stärke darstellt. Dabei verweist er auf Platon und dessen Abneigung gegenüber der Demokratie, weil sie nicht auf Wahrheit begründet sei und daher ihre Legitimität nicht darauf abstützen könne. Stets war Platon auf der Suche nach einer Logokratie, um diese Mängel der Demokratie zu beenden. Nancy verweist insbesondere darauf, weil dieser Mangel der Unbegründbarkeit – der für Platon so fatal war – im Wesen der Demokratie liegt und auch heute nicht beseitigt werden kann.
Stattdessen verschafft sich die Demokratie bezüglich ihrer Grundlosigkeit Abhilfe, indem sie vor allem in der Phase des Entstehens und der Wiederherstellung eine neue Grundlage sucht: die Zivilreligion. Diese dient als Ersatz für das überkommene Recht und erteilt der politischen Schöpfung des Rechts ihren Segen, wenngleich sie diese auch nicht begründet. Das Christentum steht dabei für eine Zwitterform, da es noch theokratische Elemente enthält. Dabei ist eine solche Zivilreligion eher zivil als religiös – eher politisch als spirituell und damit ein Mittel der Politik.
3. Demokratie als unterbrochene Revolution
Nancy sieht für die Politik zwei Alternativen: Entweder Politik bleibt begründungslos oder es wird ein ‚zureichender Grund‘ herangezogen. Im ersten Fall nehmen Motive den Platz der Begründung ein. Im zweiten schlägt der angegebene Grund gezwungenermaßen in Herrschaft und Unterdrückung um. Nancy verbindet diese beiden Alternativen und versteht die Demokratie als eine unterbrochene Revolution oder eine Revolution in der Schwebe. Eine Revolution wird erforderlich, weil die Politik mit dem Fehlen einer Grundlage konfrontiert werden muss, und unterbrochen ist sie, weil es ihr gleichzeitig nicht möglich ist, zu einer Grundlage zurückzukehren. Solche Konzepte lösen damit die ‚große Illusion der Moderne‘ ab, die den Staat durch eine Grundlage der Wahrheit ersetzen möchte und eine Welt ohne Macht anstrebt.
Auch etymologisch lässt sich die These der Begründungslosigkeit bestätigen. Das Suffix von Demokratie weist auf die gewaltsame Durchsetzung hin statt wie z. B. bei Monarchie auf das Prinzip einer legitimen Herrschaft. Denn das Volk – so betont Nancy – stellt kein Prinzip dar, und der Verweis darauf ist nur eine aktive und permanente Erneuerung der Beziehung zu einem Mangel. Er weist damit Formen des Naturrechtes zurück, da keine menschliche Natur an sich existiere und der Mensch – als etwas der Natur Entgegengestelltes – das Subjekt eines Denaturierungsprozesses sei. Die Konsequenz daraus ist, dass Demokratie als Politik keine Begründung besitzen kann und diese auf der Abwesenheit einer menschlichen Natur beruht.
Doch obwohl die Politik selbst kein Grundlage hat, ist es gerade die Aufgabe der Politik, Sphären zu eröffnen, die der Ordnung der Wahrheit und des Sinns folgen (wie z. B. die Kunst oder die Liebe) und im Verhältnis zum Unendlichen stehen. Nancy nennt es die politische Notwendigkeit, sich dem Unterschied zwischen diesen Sphären und der Sphäre der Politik bewusst zu sein – was die Demokratie jedoch nicht tut. Im Gegenteil: Sie postuliert eine Gleichartigkeit.
4. Macht
Dies hat Konsequenzen für die Macht, deren Veränderung aus dem Wesen der Gesellschaft resultiert. Die Gesellschaft besteht aus ihr äußerlichen Beziehungen und soll da einen internen Zusammenhalt stiften, wo vorher Verwandtschaft, Mythen und Symbole dies taten. Nancy weist dabei auf die anthropologischen und metaphysischen Aspekte des Gesellschaftsbegriffes hin, wobei sich die Gesellschaft aufgrund etwas ihr Äußerlichem zusammenschließt. Die Konsequenz für die Macht ist, dass diese in der modernen Gesellschaft die Form einer legitimen Gewalt annimmt statt der einer symbolischen Funktion – beruhend auf einer inneren Wahrheit einer Gruppe. Damit übernimmt die Demokratie aber eine Form der Macht, die auf Symbolismus gegründet ist, was die Demokratie aber eigentlich nicht mehr leisten kann, jedoch noch immer begehrt. Dieses Begehren brachte den Kommunismus hervor, um eine symbolische Wahrheit der Gesellschaft zu stiften, die der Demokratie im Wesen fehlt. Denn der Kommunismus löst diese Frage nach der Symbolik und formuliert eine neue Ontologie, einen neuen Sinn, eine neue Wahrheit des Miteinanders. Damit ist der Kommunismus auch keine politische Ordnung, da Politik erst mit der Abwesenheit einer solchen Ontologie gegeben ist.
Die Aufgabe der Macht ist es, die Sozialität zu garantieren bis hin zur Infragestellung von bestehenden Verhältnissen und deren Umgestaltung. Doch dazu muss sie der Sozialität Zugang zu unbestimmten Zwecken gewähren, über die die Macht nicht bestimmen kann. Dies sind die nicht zweckgerichteten Zwecke des Sinns, der Sinne, der Formen und der Intensität des Begehrens.
5. Demokratie als Vielheit und der Zugang zu Sinn
Für Nancy wird immer – außer in der Tyrannei – zum Wohle des Volkes regiert, womit die Macht vom Volk ausgeht. Allerdings ist dieses Wohl in seinem Wesen nicht bestimmt – ohne Konzept und Einheit – und kann erst in und von der Bewegung bestimmt werden. Diese Form des Wohls wird immer wieder neu erschaffen, wodurch sich der Sinn neu einstellen kann. Sinn ist dabei der „Verweis der einen auf die andere, Zirkulation, Austausch oder Teilung der Erfahrungsmöglichkeiten und damit die Beziehung zu einem Außen, die Möglichkeit einer Öffnung auf das Unendliche hin“ (S. 85). Sinn entsteht demnach erst in der Gemeinsamkeit, ist damit den Einzelnen äußerlich und führt zu Spannungen zwischen ihnen. Das Gemeinsame ist zwar die Grundlage der Gesellschaft, bildet jedoch keine Einheit, da sie aus der Verschiedenheit entsteht. Demokratie, die die Gesellschaft organisieren will, strebt durch die Verbindung mit den Zwecken eine Metaphysik an, da sie sich selbst auf kein grundlegendes Prinzip mehr beziehen kann. Dabei nimmt sie die Verschiedenheit in eine Gemeinschaft auf und bewahrt dabei doch die Vielheit und damit das Unendliche.
Doch Nancy weist auf die Falle der modernen Demokratie hin, bei der die Bewahrung gesellschaftlicher Stabilität – im Sinne des Staates – mit der umfassenden Form des Zusammenseins verwechselt wird. Denn eine umfassende Form ist nur so lange umfassend, wie sie diverse Entwicklungen und die unerschöpfliche Vielfalt zulässt und sich nicht auf einen Endpunkt ausrichtet. Deshalb kann es keine Form der Formen oder das Erreichen einer Ganzheit geben, wobei uns aber die Politik genau dies glauben lässt: nämlich dass alles politisch sei. Aber die Politik kann nicht Begründung oder Sinn sein, sondern ist ‚nur‘ die Form des Zugangs zu diesen Formen. Die Besonderheit der Politik liegt jedoch darin, dass sie immer neue Möglichkeiten zur Entstehung von Sinn schaffen kann, wenn sie auch nicht konkret ausgebildet ist wie die Selbstzwecke der Kunst oder der Liebe, die vollendete Formen annehmen und damit das Unendliche abschließen können – wenn auch nur in ihren Sphären. Die Politik hingegen ist das Feld, auf dem sich die Gewalt formiert. Sie läuft nicht auf Zwecke hinaus, sondern führt zu vorübergehenden Gleichgewichten und gehört damit zum Bereich des Unabschließbaren.
6. Reflexion der Grenzen
Die Grenzlinien zwischen den nicht politischen Sphären und der Sphäre der Politik sind nicht etwas Gegebenes oder etwas Unabänderliches, und es ist das Charakteristikum der Demokratie, diese Grenzen zu reflektieren. Für Nancy ist es zentral, dass die Politik eben nicht der Ort der Zwecke ist, sondern nur der Zugang zu ihnen, und dass diese Tatsache Einzug in den politischen Diskurs erhalten müsse. Denn die Demokratie ist „die Bezeichnung für eine Veränderung des Verhältnisses der Menschheit zu ihren Zwecken oder zu sich als ‚Zweck an sich selbst‘ (Kant)“ (S. 89). Demokratie ist nicht nur Selbstverwaltung und auch keine absolute Wahrheit – sie ist die Bezeichnung für eine Menschheit ohne Zweck in Anbetracht der Unendlichkeit.
7. Fazit
Nancy beginnt mit der heute bestehenden Schwierigkeit des Demokratiebegriffes, der auch der Ursprung dieses Buches war, und zeigt die Herkunft dieses Problems aus der der Politik innewohnenden Ambivalenz und ihrer Begründungslosigkeit auf. Durch den Verweis auf sehr unterschiedliche Aspekte des Ursprungs und der Entwicklung der Demokratie – wie die Etymologie, die Funktion der Zivilreligion oder die Konsequenzen für die Macht – vermittelt dieser Beitrag ein tieferes Verständnis für den Demokratiebegriff. Nancys Anliegen der Reflexion der politischen Grenzen gegenüber den anderen Sphären und die Anerkennung, dass die Politik selbst die Gesellschaft nicht begründen kann, ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit der Beschränkung der Demokratie und die kontinuierliche Thematisierung dieser Problematik im öffentlichen Raum. Allerdings – vielleicht gerade durch die Breite der Argumentation – führt Nancy viele Grundannahmen mit einer Selbstverständlichkeit ein, ohne sie genauer zu erläutern, so z. B. die Annahme, dass es Politik erst seit der Politeia gibt – eine Annahme, die man vertreten kann, die aber von der Definition von Politik abhängt, die wiederum nicht genauer geklärt wird. Dieses Vorgehen könnte zwar an dem begrenzten Rahmen dieses Artikels liegen, was allerdings nicht die Fragezeichen meinerseits auflösen kann.
Unklar bleibt für mich auch die Sinnkonstruktion, die von Nancy aus dem Raum der Politik verbannt wird und nur in anderen Sphären des unbestimmten Zweckes der Wahrheit und des Sinns zu finden ist. Ich finde es sehr fragwürdig, der Politik Sinnproduktion abzusprechen, denn Politik schafft Konstruktionen – oder anders – Konstruktionen können politisch genutzt werden und werden von dieser beeinflusst.
Da solche zentralen Begriffe und Argumente nicht ausformuliert und begründet werden, bleiben zum Schluss viele Unklarheiten bestehen, und man hadert, Nancys Schlussfolgerungen auf dieser wackeligen Basis so ohne Weiteres zuzustimmen. So wirkt der Text – so erhellend er streckenweise auch ist – in vielen Punkten, wie er selbst zum Ende schreibt: unzusammenhängend und ohne Schlussfolgerungen bleibend.
Doch eine Konsequenz, die Nancy zieht, ist auch in vielen anderen Interpretationen wiederzufinden: Die moderne Demokratie, die sich auf kein Prinzip mehr berufen kann und doch alles verspricht, kann und darf nicht abgeschlossen werden. Es ist die Revolution in der Schwebe, die stets ihre Grenzen reflektieren muss und die fortwährende Diskussion im öffentlichen Raum benötigt. Dadurch bleibt der Demokratiebegriff lebendig, und um eine Antwort auf die Frage des Buches zu geben: Ja, man muss sich weiterhin auf den Begriff der Demokratie beziehen. Das Problem der Bedeutungslosigkeit ist damit jedoch nicht gelöst und weist damit genau auf das Problem hin, dass dem Begriff der Demokratie heute eine solch starke symbolisch legitimierende Kraft innewohnt, dass sich alle möglichen politischen Projekte darauf berufen, was wiederum zur Bedeutungslosigkeit beiträgt.
Deinem Urteil „streckenweise erhellend, in vielen Punkten unzusammenhängend und ohne Schlussfolgerungen bleibend“ kann ich im Wesentlichen zustimmen. Manchen Absatz liest man mit gewissem Erkenntnisgewinn oder zustimmendem Nicken, aber worum es Nancy konkret geht, bleibt verschwommen. Gefreut hat mich, dass er auf Rousseau mehrfach zu sprechen kam, denn mir scheint momentan Rousseau der wichtigste Referenzautor der Moderne zu sein, bei dem man beginnen muss, um über demokratische Gemeinwesen nachzudenken.
Im ersten Abschnitt hätte man noch deutlicher, klarer auf das problematische Versprechen der Demokratie eingehen können: das Versprechen der Freiheit jedes Menschen in Gleichheit aller Menschen, eines der zentralen Themen von Rousseaus Gesellschaftsvertrag. Zum zweiten Abschnitt Nancys frage ich mich, was er mit der „Tendenz zur Selbstüberwindung“ in der Politik des 20. Jh. meint?
Die Verbindung von Demokratie und Zivilreligion ist mir auch zu kurz bei Nancy gekommen, um dies genau zu verstehen; hier hilft wohl auch das Lesen von Rousseau weiter. Interessant fand ich den Hinweis auf die etymologische Verwandtschaft von Pluto-, Aristo- Auto- etc. und Demokratie als Herrschaft mit gewaltsamer Durchsetzung; und Monarchie, Anarchie und Hierarchie als begründete Herrschaft. Hier gesellen sich verschiedene Herrschaftsformen zueinander, die instinktiv doch eher nicht zusammen gedacht werden, wobei die durch die Wortherkunft suggerierte Wesensverwandtschaft mir doch zweifelhaft erscheint. Vielleicht liegt hier eher ein Problem bei der Begriffszuordnung bzw. -bestimmung vor.
Dass immer zum Wohle des Volkes regiert werde, ist eine provokante These; doch empirisch betrachtet, wird man kaum Regenten finden, die nicht von sich behaupten würden, zum Wohle des Volkes regieren zu wollen. Die Frage ist – neben der Frage, wer zum Volk gezählt wird – nach Nancy, was mit dem Gemeinwohl gemeint. Das halte ich für ein ungemein schwieriges theoretisches Problem, dies zu bestimmen. Wichtig ist wohl eher, dass das Gemeinwohl (in den unterschiedlichen Epochen) demokratisch bestimmt wird; der Inhalt des Gemeinwohls ist wohl wandelbar je nach den Umständen.
Nancys Politik-Definition, die der Politik Sinnproduktion abspricht, finde ich weniger problematisch. Politik als etwas, was Zugang für Sinnproduktion in den anderen Sphären öffnet, und nicht als etwas selbst Sinnproduzierendes scheint mir sinnvoll. Sie soll die Produktion von neuen Formen und Ordnungen ermöglichen. Politik ist ja überall dort, wo Menschen zusammenleben und das Leben zum Wohle (möglichst) aller regeln. Sie ist eine Handlungsweise, die fast automatisch (?) erscheint, wo mehrere Menschen zusammentreffen. Das hat noch keinen konkreten Sinn, außer ein wohlgeordnetes Leben aller in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu ermöglichen. Welcher Sinn in Kultur, Wissenschaft, Freizeit etc. konkret verfolgt wird, sollte dezentral dort entschieden werden. Das sind jetzt spontane Gedankengänge, die vielleicht etwas wirr sind, aber mir erscheint Nancys Politikdefinition als Politik ohne Zweck irgendwie nachvollziehbar zu sein – Politik ist ein Mittel, kein Zweck.