Pure Vernunft darf niemals siegen.
Was bleibt einem anderes übrig, als angesichts der politischen Gegenwart zu schreien: Was für ein Unsinn! Das wahnsinnige Treiben an den Finanzmärkten und das strikte Spardogma in der Europäischen Union erscheint vielen, die es wirklich besser wissen, zu Recht als völlig unvernünftig. Und es scheint das – egal was wir tun und sagen – folgendes passiert: Die Spekulation geht weiter, das Sparen auch. Und das, obwohl eigentlich alle wissen, dass volkswirtschaftlich gesehen in einer Rezession nichts unsinniger ist als Austerität; und obwohl sich die meisten Menschen einig sind, dass das Volumen der gehandelten Wertpapiere irre und die Wetten auf den Hunger in der Welt und die Angst der Leute widerlich ist. Angesichts dieser Entwicklungen reicht der Politik eine kurze, vielleicht sogar gut gemeinte Kritik der irrationalen Verhältnisse: Die Auswüchse des Finanzmarktes, die Entgleisungen von Einzelnen, die Maßlosigkeit einer Berufsgruppe – und schon sind ein, zwei Programme bei der Hand, um das ganze wieder hinzubiegen und die Unvernunft zum Schweigen zu bringen.
Wir haben uns daran gewöhnt, diese ‚Auswüchse‘ unserer Wirtschaftsordnung dem Finanzmarkt und der Deregulierung zuzuschreiben. Die steigenden Lebensmittelpreise sind das Werk von gierigen Spekulanten, der schlechte Einfluss auf die Politik kommt aus dem Finanzsektor, die Gentrifizierung unserer Städte geht aufs Konto schmieriger Makler. So lautet auch die klassische Verteidigung von Obamas Politik in den USA: Er könnte ja sozialer sein, aber der Finanzmarkt, er lässt ihn nicht. Der Finanzmarkt ist der reinste Einbruch der Unvernunft in eine eigentlich völlig vernünftige Art des Wirtschaftens und Denkens. Diese Unvernunft hat einen schillernden Namen: ‚Neoliberalismus‘. Was wir angesichts dieses Neoliberalismus lediglich brauchen, ist zum Beispiel eine Kanzlerin, die uns zeigt, was falsch läuft. Eine, die die Vernunft zurück in die Ökonomie holt.
Eigentlich aber verhält es sich so – und diese Feststellung ist nicht unkonventionell – dass gerade der Finanzsektor der ureigenste Teil unserer Ökonomie ist. Schulden sind, wie David Graeber zeigt, vielleicht das Fundament der menschlichen Geschichte – ganz sicher aber sind sie das Fundament unserer kapitalistischen Ökonomie.1 Der bekannte Geograph David Harvey hat gezeigt, dass die wundersame Vermehrung von Kapital nur dann funktioniert, wenn man heute schon kaufen und erst morgen bezahlen kann. Wenn also, kurz gesagt, die zeitliche Lücke zwischen Kauf und Verkauf mit Schuldscheinen überbrückt wird.2 Die sogenannten Auswüchse und Fehltritte des Finanzmarktes lassen sich also vielleicht gar nicht so einfach trennen von dem, dem sie entspringen.
Es ist aber nicht die Zusammengehörigkeit von Finanzmarkt und ‚gutem‘, produktiven Wirtschaften, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Es ist nicht die zweifellos um sich greifende Irrationalität, die uns Sorgen bereiten sollte. Mit dem engen Blick auf diese so genannten ‚Auswüchse‘ verlieren wir die zugrunde liegende Rationalität, die selbst noch die Irrationalität begründet, aus dem Blick. Das eigentlich erschreckende ist doch: Es gibt nichts Vernünftigeres als eine Ausbildung bei der Deutschen Bank (am besten irgendwas mit Nachhaltigkeit). Es gibt nichts Rationaleres als Aktiengeschäfte; nichts was Vernünftiger wäre als das Anhäufen von Geld, Aktien, Autos. Die entscheidende Frage ist doch: Wie entflieht man all dem, was vernünftig ist?
Zum Beispiel die Mieten, die in vielen Städten der Welt inzwischen so hoch sind, dass junge Menschen in Metropolen reihenweise zurück zu ihren Eltern ziehen. Oder aber den größten Teil ihres ohnehin geringen Einkommens gleich wieder in die Miete stecken. Diese Entwicklung als irrational zu betrachten ist intuitiv, denn es steckt schon ein Skandal darin, aus dem bloßen Wohnen ein so lukratives Geschäft zu machen. Aber ist es ein Skandal? Es ist mithin das Normalste der Welt, aus dem gesellschaftlichen Leben ein Geschäft zu machen. Die Lebensmittelindustrie lebt von unserem Hunger, die Bars von unserem Durst, facebook abwechselnd von unseren Freundschaften und unserem Hang zur Selbstdarstellung. Muss man nur die Auswüchse eindämmen? Wie war das nochmal mit der Irrationalität des Finanzmarktes?
Es ist falsch, dass es eine natürliche Schwelle gibt, an der ein eigentlich vernünftiger Sachverhalt unvernünftig würde. Es scheint zwar so, dass ein WG-Zimmer für 200 Euro im Monat eine vernünftige, eins für 500 Euro eine unvernünftige Sache ist. Aber sobald man anerkennt, dass Vernunft und Unvernunft kein Gegensätze sind, verliert diese Unterscheidung ihren Sinn. Denn es ist in beiden Fällen dieselbe Vernunft, die den Preis für das Zimmer festlegt, es ist der gleiche Mechanismus, der bestimmend ist. Und dieser Mechanismus kennt kein Maß, sondern nur eine Funktion: Angebot und Nachfrage – maximaler Profit. Die vermeintlich neoliberale Irrationalität gehorcht selbst noch der Rationalität, aus der sie erwächst. Wenn wir ein WG-Zimmer für 500 Euro unsinnig teuer finden, dann entspringt diese Unsinnigkeit selbst noch aus der Tatsache, dass es grundsätzlich vernünftig ist, für das Wohnen zu bezahlen. Und dass es darüber hinaus vernünftig ist, unsere grundlegenden sozialen Beziehungen über Geld zu regeln. Wir haben all das akzeptiert, wenn wir uns über die Irrationalität aufregen.
Deshalb ist es auch so harmlos sich zu empören. Empört euch nicht! Empörung ist ein Zeichen dafür, dass es eigentlich bereits zu spät ist. In diesem Akt zeigt sich die ganze Harmlosigkeit der Vorstellung einer irrationalen Entwicklung der Wirtschaft. Die Empörung ist nicht nur das Kopfschütteln über den Lauf der Dinge. Empörung ist der zynische/verzweifelte/paradoxe Rückzug auf die Vernunft. Es ist die Beschwerde über den geringen Lohn und die hohen Mieten mit der Berufung darauf, dass das im Grunde schon okay sei, nun aber wirklich zu weit ginge. Betrachten wir diese Empörung im Rahmen der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, dann gleicht dieser Akt einem Künstler, der durch das bloße Anstarren einer Leinwand versucht ein Bild zu malen. Um wirklich etwas zu verändern, müssten wir uns zunächst mal darüber klar werden, dass wir uns nur mehr empören können.
Womit wir wieder bei der ökonomischen Vernunft wären. Das Problem ist: Die denunzierte Vorstellung der deregulierten, neoliberalen Unvernunft legitimiert erst jene Art von Vernunft, die eigentlich bereits das Problem ist. Die Vorstellung der außer Kontrolle geratenen Finanzspekulation legitimiert im ersten Schritt das grundlegende Funktionieren unserer Ökonomie. Es ist ein Trick. Unsere Kritik setzt am Wahnsinn an und nicht an der Vernunft, die diesen Wahnsinn erst in die Welt bringt. Die Vernunft ist der eigentliche Wahnsinn. Was uns stören muss ist nicht die Unvernunft, die wir zur Zeit beobachten können; es ist nicht das Wirken des Finanzmarkts. Das, was uns bereits abschrecken muss, ist die Vernunft. Und zwar die Vernunft, die wir bereits akzeptiert haben müssen, um uns über die Unvernunft zu empören. Der eigentliche Skandal ist, dass es uns vernünftig erscheint für unser gesellschaftliches Leben – das Wohnen, Essen, Freunde Treffen – bezahlen zu müssen. Mehr noch, dass diese Dinge für uns nicht in erster Linie gesellschaftliche Dinge sind, sondern Sachen, über die der Markt entscheidet. Bei diesem Gedanken haben wir den eigentlichen Wahnsinn schon zur Voraussetzung unserer Empörung gemacht. Schon bei so etwas grundlegendem wie dem Wohnen zeigt sich, dass diese Vernunft befremdlich ist. Wohnen hat mit Geld in erster Linie nichts zu tun. Es geht um den sozialen Raum, die Menschen, die Architektur, die Aussicht, die Nachbarschaft, Kochen, Schlafen…
Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat es einmal sehr schön ausgedrückt: „Es ist wie mit der Theologie: alles ist völlig rational sofern man die Sünde, die unbefleckte Empfängnis, die Inkarnation voraussetzt“. Wir können sagen: Es ist wie in der Ökonomie, alles lässt sich als irrational bezeichnen, sobald man die ökonomische, die abschätzende, die nutzenmaximierende Vernunft einmal voraussetzt. mit dem Blick auf die Vernunft selbst, verliert der Finanzmarkt seine Irrationalität. Wenn wir das Problem nicht mehr als ‚Auswuchs‘ betrachten, sondern als eigentliche Rationalität, dann ist das ungleich verstörender. Denn nichts ist einfacher als im Namen der Vernunft zu sprechen. Nichts ist einfacher, als den Neoliberalismus zu denunzieren. Die Aufgabe besteht heute vielleicht gerade im Verlassen des vernünftigen Bereichs. Und im Zweifeln daran, dass jemand das Problem löst, wenn er im Namen der Vernunft spricht. Die Vernunft ist kein Verbündeter in diesem Kampf, sie ist das eigentliche Problem.
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Lieber unbekannte Autorin,
das ist ein sehr guter Blogpost, der sehr zum Nachdenken anregt.
Es gibt keine Vernunft in der Wirtschaft, aber gibt es eine Vernunft in der Politik? Die Alternative, das Wohnen und Essen ohne Bezahlung zugänglich sind, müsste eine koordinierende Steuerungsinstanz voraussetzen. Was wäre das? Der Staat.
Ich glaube nicht, dass ohne Staat und Wirtschaft wir alle wunderbarerweise aufeinmal nett und freundlich zueinander werden und unser Essen teilen.
Ich möchte gerne in einem Staat leben, der Schulden aufnimmt, um die KiTA-Gebühren für meine Kinder, das Bafög für Studierende und die Rente für alte Menschen zahlt. Für diese Finanzierung brauche ich auch die Grundsteuer von Hauseigentümern und die Gewerbesteuer von Restaurants.
Liebe Grüße
Valerie Lux
P.S.: Ich finde es sehr irritierend, dass auf diesem Blog ohne Namen geschrieben wird. Wer seine Meinung begründet vertreten kann, braucht keine Angst vor der Nennung seines Namens haben.
Zu deinem PS: Auf den ersten Blick hast du natürlich recht, Klarnamen von Autoren wären schon transparenter. Ich würde deine Behauptung, dass niemand Angst vor der Nennung seines Namens haben muss, aber nicht ohne weiteres teilen.
1. Dieser Blog von Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern ist auch als publizistisches Übungsgelände und Experimentierfeld gedacht – falls aus dem heute unbekannten Studierenden ein erfolgreicher und bekannter Prof geworden sein sollte, möchte der dann vielleicht nicht unbedingt, dass alle seinen „Jugendsünden“ auf diesem Blog mit ihm in Verbindung gebracht werden.
2. Gravierender ist für mich noch das Argument, dass in Zeiten völliger digitaler Überwachung (nicht nur der NSA) Vorsicht bei der Nennung von Klarnamen ratsam erscheint, falls man allzu gesellschaftskritisch oder systemfeindlich argumentiert und seine spätere Karriere nicht allzu stark eintrüben möchte.
3. Nicht zuletzt ist das ein Blog einer AG von polit-theoretisch Interessierten zur Selbstverständigung, d. h., die AG-Mitglieder wissen, wer hier schreibt – ein gewisses Maß an Teilöffentlcihekit ist also hergestellt.
Ich gebe zu, gegen alle diese Argumetnhe ließen sich gute Gegenargumente finden. Aber derzeit ist es eben relativ anonym.
Zur Rolle des Staates und der Wirtschaft: Ich bin von dem Argument nicht überzeugt, dass es einen Staat geben soll, der abseits der Wirtschaft lediglich für die Verwaltung der Güter zuständig ist. Und dass es hier eine andere Rationalität gibt, als in der Wirtschaft. Ich fürchte sogar, dass der moderne Staat, so wie er aktuell existiert, verstanden werden muss als etwas, dass sich in völligem Zusammenhang mit der Wirtschaft entwickelt hat (Stichwort Politische Ökonomie, die Mehrung des nationalen Wohlstands). Ich würde daher zunächst vorschlagen, diese Zusammengehörigkeit zu betrachten und zu kritisieren. Erst anschließend könnte man fragen, wie ein Gemeinwesen, das in jedem Fall auf eine bestimmte Art und Weise organisiert werden muss, aussehen könnte. Den Staat und staatliche Organisierung sehe ich aktuell nicht als mögliche, existierende Alternative zu der von mir beschriebenen Vernunft.
Zur Anonymität: Die Anonymität ist frei gewählt und ich finde nicht, dass sie dem Blog oder der Diskussion in irgendeiner Hinsicht schadet. Wenn die Anonymität sogar irritiert, dann ist damit vielleicht schon etwas erreicht.
Hundert Prozent Zustimmung zu diesem Beitrag. Ich habe jüngst einen Kabarettauftritt von Christoph Sieber gesehen, der prinzipiell in eine ähnliche RIchtung argumentiert.
Ehrlich gesagt wäre ich schon froh, wenn die große Mehrheit der Menschen in den entwickelten kapitalistischen Ländern noch so viel Vernunft/klaren Verstand besäße und angesichts der empörenden Politik und des wahnsinnigen Treibens an den Finanzmärkten (und in der Realwirtschaft) Empörung äußern würde. Aber das Beängstigende (nicht nur) in unserem Lande ist doch die Folgenlosigkeit von Kritik, ist das ignorante, stillschweigende Hinnehmen von Missständen wie Hunger, Klimawandel, Kriegen durch große Bevölkerungsteile, als ob diese Missstände unabänderlich und gottgegeben wären (statt menschengemacht und damit auch änderbar). Die wesentliche Frage unserer Zeit ist doch, wie es sozialpsychologisch zu machen ist, diese schlafende Masse, die sich in Sonntagsreden mal als aufgeklärte Bürgerschaft oder so bezeichnet, in Schwung gebracht werden kann, um gegen die die Missstände verursachende Politik/Politiker aufzubegehren und nicht nur an den kurzfristigen, eigenen Vorteil im Alltagskampf gegen die Systemfolgen zu denken.
Dass auf die Empörung dann eine langfristige Lösungsstrategie und eine Neudefinition (ist das das richtige Wort?) des Vernünftigen folgen müsste, ist klar. Aber schön wäre aus meiner Sicht schon mal, wenn sich nicht nur die üblichen Verdächtigen von kleinen kritischen Verbänden und Vereinen aufregen würden – sondern der „ganz normale“, unorganisierte Bürger. Vielleicht erleben wir mit der Großdemo in Berlin gegen TTIP & Co am 10. Oktober einen Auftakt zu größeren Sozialprotesten – nur habe ich da so meine großen Zweifel.
Ich gebe zu, ich war mir bei dem Titel nicht ganz sicher. Er trifft schon, was ich sagen will, allerdings ist damit die Empörung auch ziemlich diskreditiert. Ich finde, genau wie Du, dass die Empörung in jedem Fall ein wichtiger Punkt in einer größeren Entwicklung politischer Aktivität ist. Aber sie kann nicht das eigentliche Ziel sein. Das Organisieren von großangelegtem Protest ist auf jeden Fall ein wichtiges Element, um der bestehenden Vernunft entkommen zu können oder sich ihr zu widersetzen. Aber ein anderes Element beschäftigt mich ebenfalls, dass du unter dem Stichwort ’schlafende Masse‘ und ‚Bürgerschaft‘ nennst. Ich denke es bedarf neuer Formen politischer Subjektivität, nicht Bürger und auch nicht die protestierende, sich empörende Masse: Eine andere Art und Weise politisch zu Handeln und politisch zu sein. Wie könnte so eine Subjektivität aussehen? Militant? Nachdenklich? Erklärend? Erziehend? Ich bin mir nicht sicher.