Tagungsbericht zu: Überwachen und Strafen heute, 05.-07. November in Bremen
von Clelia Minnetian, Janosik Herder und Stefan Wallaschek
Zum 40-jährigen Jubiläum von Michel Foucaults Buch Überwachen und Strafen organisierten Frieder Vogelmann, Jörg Bernardy und Martin Nonhoff eine Tagung in Bremen zur Frage der Aktualität der dort formulierten Thesen. Welche Rolle spielen heute noch die Disziplinarmacht oder das Panopticon unter der Annahme, dass ganz neue Techniken wie die neoliberale Steuerung zur Selbststeuerung zum Einsatz kommen oder ältere Strafpraktiken des öffentlichen Prangers wieder vermehrt festzustellen sind? Dass der Tagungsort mit zwei sich gegenüberliegenden Glasfronten selbst einem Panopticon ähnelte und die Tagung für ein weiteres Filmprojekt von Christoph Faulhaber komplett aufgezeichnet wurde – dessen letzter Film Jedes Bild ist ein leeres Bild auf der Tagung zu sehen war –, konnte in einem foucaultschen Sinne wiederum als interessanter Verweis auf gegenwärtige Überwachungstechniken wie auch auf die gesellschaftlichen Wünsche nach Transparenz, Offenheit und Datenakkumulation verstanden werden.
Donnerstag – Subjektivierung, Panopticon und Scham
Die beiden ersten Vorträge beschäftigten sich mit der neuen Subjektform des digitalen Subjektes, die mit der medialen Entwicklung aufgekommen ist. So aktualisierte Susanne Krasmann die neuen Formen des Sicht- und Sagbaren für das datenproduzierende Subjekt der Gegenwart. Ihre Annahme der datenlogischen Verschiebung ging dabei von Eigenlogiken der Algorithmen, Netzwerken und Materialitäten in der gegenwärtigen Kontrollgesellschaft 2.0 aus, was mit einem Verlust der menschlichen Souveränität einhergeht. Mit dem Konzept der visual citizenship, welches auf die dominante Form visueller Informationen fokussiert, werden jedoch auch neue Formen der Widerständigkeit formuliert.
Tobias Matzner nahm anschließend die subjektivierende Rolle von Daten in den Blick. So haben etwa das Geben von Fingerabdrücken oder das Ausfüllen von Fragebögen direkte subjektivierende Effekte, ihre langfristige Wirkmächtigkeit entfachen Daten aber erst bei ihrer Auswertung, etwa wenn die Kreditvergabe oder die Wohnungssuche positiv oder negativ ausfällt. Matzner wies zum Schluss darauf hin, dass die Performativität von Daten nicht nur uns selbst betrifft, sondern auch zur Klassifizierung jener führt, die nicht zu den ‚normalen‘ Daten passen – der Verdächtige wird damit zur neuen Subjektform gerade im Zusammenhang einer zunehmenden Versicherheitlichung.
Im Anschluss daran nahm Dietmar Kammerer das Panopticon und seine Rezeptionsgeschichte in den Blick und wies darauf hin, dass Benthams Konzept und Foucaults Reformulierung primär eine abstrakte Idee darstellen, die weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen wie disziplinierende Maßnahmen nach sich ziehen. Die Rezeptionsgeschichte bezog sich hingegen stärker auf die materielle Dimension: auf Architektur, Kabel und elektronische Medien. Anschließend formulierte Kammerer ein weiteres Konzept, das zum einen den Fokus auf die Abstraktheit des Begriffes legt und zum anderen aktuelle Überwachungspraktiken – wie das Anbringen von Überwachungshinweisschildern oder das ‚Schwärzen‘ in einsehbaren Dokumenten – mit einbezieht, um das sichtbare Unsichtbare zu betonen.
Im letzten Vortrag am Donnerstag arbeitete Philipp Wüschner die Rückkehr der Schandstrafe heraus. Insbesondere wenn Strafen als zu milde wahrgenommen wird, findet sich eine Ergänzung durch Scham. Die Schamstrafe als Inszenierung in der Öffentlichkeit zielt nicht auf Reintegration, sondern auf Ausschluss durch Exempel. Wüschner machte dies insbesondere an öffentlichen ‚Shitstorms‘ fest, die zum Alltag der medialen Öffentlichkeit gehören. Sie setzen auf Beteiligung und erzeugten Gemeinschaftssinn, jedoch berge die anonyme Demokratie neue Gefahren, wenn sie etwa ins Reaktionäre umschlage.
Freitag – Foucault in Theorie und Praxis
Neben der theoretischen Auslegung und Deutung der Arbeiten Foucaults gab es am Freitag auch einige interessante Beiträge, in denen das begriffliche Instrumentarium Foucaults Anwendung fand.
Friedrich Balke begann den Tag aus einer medientheoretischen Perspektive, in der er Foucaults Mikropolitik und McLuhans Konzept des ‚the medium is the message‘ zusammenbrachte. Beiden gemeinsam ist ein Begriff des ‚Netzes‘ sowie ein ambivalenter Effekt der Macht bzw. der Medien, die zugleich eine stärkende als auch eine schwächende Wirkung entfaltet. Ein besonderes Augenmerk legte Balke dabei auf die für die Bürokratie typische Schriftmacht, die in den kleinen Auflistungs- und Notierungstechniken zu finden ist.
René Aguigah lenkte mit seinem Beitrag den Blick auf die Argumentationsebenen in Überwachen und Strafen. Ausgehend von der Feststellung, bei Foucault gebe es keine einfache Beziehung zwischen der Theorie und der politischen Praxis, unterschied er die Argumente im Buch in analytische, politische und philosophische. Aguigah forderte, die politischen und philosophischen Argumente zusammen zu denken, weil sie einander erst Plausibilität verleihen. So müsse die bekannte Aussage Foucaults, die Seele sei das Gefängnis des Körpers, doppelt verstanden werden. Sie ist ein philosophisches Argument, in dem das klassische Verhältnis von Körper und Seele umgekehrt wird. Gleichzeitig muss sie aber auch als politisches Argument verstanden werden, das die Zustände im Gefängnis kritisiert. Auch Jörg Bernardy wies mit seiner Lesart des Buches als Science-Fiction-Roman auf die politische Bedeutung des Buches hin. Er betonte dabei vor allem den ‚Zurück in die Zukunft‘-Effekt der Untersuchung Foucaults, die zwar historisch verfahre, ihren Zweck aber in einer Veränderung der Gegenwart hat.
Marita Rainsborough zeichnete die theoretische Verbindung und Auseinandersetzung von Überwachen und Strafen und der postkolonialen Theorie nach. Sie zeigte, wie sich die zwei wichtigen Theoretiker der postkolonialen Theorie, Achille Mbembe und Walter D. Mignolo, auf Foucaults Machtkonzept aus Überwachen und Strafen berufen und es zugleich kritisieren. Während etwa das Element des Sterben-Machens der Souveränitätsmacht auch im postkolonialen Kontext zentral ist, wurde von Foucault die Plantage und Kolonie selbst als zentrales Experimentierfeld der sich abzeichnenden Disziplinarmacht vernachlässigt.
Petra Gehrings Beitrag lenkte den Blick noch einmal auf den Text von Überwachen und Strafen. Sie setzte sich dabei mit der Frage auseinander, ob die ständige Sichtbarkeit, die die Idee des Panopticons suggeriert, tatsächlich subjektivierende Tiefenwirkung entfaltet, wie in der Diskussion von Überwachen und Strafen heute gemeinhin angenommen. Auf der Grundlage einer etwas veränderten Übersetzung des französischen Originaltextes zeigte sie, dass Foucault diese ständige Sichtbarkeit zunächst nur als Oberflächenphänomen beschreibt. Die eigentlich subjektivierenden Momente der Disziplinarmacht sind dann vor allem in der Prüfung und den ‚Mitteln der guten Abrichtung‘ zu suchen.
Sehr viel praktischer wurde es bei Thomas Biebricher. In seinem Vortrag umriss er die Macroeconomic Imbalance Procedure (MIP) der Europäischen Union (EU) und schlug vor, diese mit den theoretischen Begrifflichkeiten aus Überwachen und Strafen zu verstehen. So lässt sich etwa die Sanktionspolitik als eine bestimmte, disziplinarische Strategie der Macht auffassen. Insgesamt erlaubt die Perspektive aus Überwachen und Strafen, eine Frage an die MIP zu stellen, die Foucault mit Bezug auf das Gefängnis so formulierte: Wenn das Gefängnis notwendig scheitert, welchen Zweck hat es dann eigentlich?
Auch Martin Nonhoff präsentierte in seinem Beitrag eine praktisch-empirische Anwendung der Überlegungen Foucaults. In seiner historischen Analyse ging es um den normalisierenden Effekt der Einkommenssteuer. Mit Bezug auf frühe Steuertheoretiker und Parlamentsdebatten zeigte der Beitrag, wie sich die Norm der Einkommenssteuer auf diskursiver, institutioneller und subjektiver Ebene etablierte. Gerechte Steuern, so das aus dem Material rekonstruierte Fazit, sind nicht ohne Unterwerfung, Zwang und Sichtbarmachung zu haben.
Samstag – Wissen, Macht und Kontrolle
Der letzte Konferenztag war geprägt von offensiv vorgetragenen neuen Lesarten zu Überwachen und Strafen. So argumentierte Frieder Vogelmann, dass mit der Geburt des modernen Gefängnisses, wie es Foucault skizziert, auch die Gesellschaftswissenschaften entstanden sind und sogar eine ähnliche Funktion aufweisen: die Produktion von Wissen, verstanden als „Existenzbedingung von Erkenntnissen“. Statt allein die Machtkonzeption zu betonen, verwies Vogelmann auf die „archäologische Dimension“. Er stellte die These auf, dass anhand der drei Techniken „Probe“, „Untersuchung“ und „Prüfung“ die Herstellung und Ordnung von Wissen geschieht – im Gefängnis ebenso wie in den Sozialwissenschaften. Vogelmann stellte aber am Ende selbstkritisch die Frage, welche weiteren Faktoren für die (gleichzeitige) Entstehung von Gefängnis und Sozialwissenschaft eine Rolle spielten.
Martin Saar konzentrierte sich gänzlich auf die Form der Macht. Indem sie verinnerlicht wird, ist sie nicht nur oberflächlich, sondern wirkt hervorbringend. Nur wie ließe sich eine Kritik der Macht formulieren, wenn man selbst von ihr hervorgebracht wurde? Saar argumentierte in einem Dreischritt: erstens dass Foucault Macht neu denkt, indem er sie auch als produktiv betrachtete; zweitens Freiheit die Voraussetzung von Macht ist, weswegen Freiheit und Macht nur zusammen zu denken sind; damit ist drittens eine immanente (nicht hegelianisch gemeinte) Kritik der Macht notwendig, die uns genealogisch selbst hinterfragt. Ob jedoch eine rein immanente Kritik eine kritische Praxis ermöglicht oder nicht vielmehr einen ‚Rückzug‘ oder eine ‚Verengung‘ der Kritikform darstellt, blieb in der Diskussion umstritten.
In den abschließenden zwei Vorträgen von Katrin Meyer und Sophia Hoffmann waren schließlich die Situationen von Flüchtlingen – in Europa sowie in Flüchtlingslagern in Jordanien – die praktischen Ausgangspunkte, um Foucaults Überlegungen aus Überwachen und Strafen zu übertragen und neu zu denken. So wurden insbesondere neue Formen der Überwachung und Kontrolle von beiden Vortragenden betont, die sich als Inklusions-, Exklusions- und ineinander verschränkte Mechanismen beschreiben lassen. Wie weit diese Phänomene wirklich neue Formen der Überwachung und Kontrolle sind, nur in neuen Kontexten angewendet werden oder sich selbst wandeln, wurde kontrovers diskutiert.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Foucaults Überwachen und Strafen beweist sich auch heute als aktuelle Inspirationsquelle für theoretische Arbeiten und als Ideengeber für empirische Analysen. Die Vielfältigkeit der Themen und Gedanken seines Werkes erlaubt zum einen intensive Auslegungsdebatten zentraler Stellen und bietet zum anderen Anknüpfungspunkte für weiterführende Arbeiten und Adaptionen. Auf der Tagung schälte sich eine Aussage besonders heraus: Foucault und Überwachen und Strafen gibt es nicht im Singular. Foucaults Denken verwehrt die Vereinnahmung für eine Position. Überwachen und Strafen ist – so hat die Tagung verdeutlicht – ebenso ein (historisches) Buch über das Gefängnis wie auch ein Text über gesellschaftliche Disziplinierung, Machtverhältnisse und die (Re-)Produktion von Wissen.