Marchel Gauchets Ausgangspunkt in „Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen“ ([1976] 1990), ist die Frage nach der Natur des Politischen und zwar nach den Erfahrungen der totalitären Regime Stalins, Hitlers und Maos. Die Grundlage für seine Analyse, bildet dabei das Nachdenken über die Teilung der Gesellschaft, die er, an dieser Stelle im Einverständnis zu Marx, als Notwendigkeit für die Gesellschaft ansieht (Gauchet 1990: 209).
Gauchet nähert sich dem Wesen des Politischen in acht Schritten, die hier zusammenfassend dargestellt werden:
(1) Im Anschluss an das soeben bekundete Einverständnis zu Marx, das die Gesellschaft nur von ihrer Teilung aus zu denken ist, übt Gauchet allerdings Kritik an Marx Idee des Kommunismus. Was Gauchet hierbei zu bedenken aufgibt, ist der Umstand, dass die Idee der konfliktlosen Gesellschaft die ontologischen Merkmale der Gesellschaft verkenne. Dieser „blinde Fleck von Marx“ ist für Gauchet daher die Vorbedingung für ein totalitäres Herrschaftssystem.
(2) Dies begründet Gauchet damit, dass der Anspruch des sozialistischen Staates, den Antagonismus zwischen Kapitalist*innen und Arbeiter*innen durch Kollektivierung aufzulösen, dazu neigt eine gesellschaftliche Einheit realisieren zu wollen, die aus ontologischen Gründen nicht umsetzbar ist.
Das „entscheidende Kennzeichen des Totalitarismus [liegt daher in der] […] Behauptung der gesellschaftlichen Einheit“ (Gauchet 1990: 213, Hervor. im Original). Ferner bedeutet die Verwirklichung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Auflösung der Existenzgrundlage des Staates. Mit der Folge, dass „der Staat mit dem gesamten Volk, mit dem Ganzen der Gesellschaft identisch“ (Gauchet 1990: 214) werde.
(3) Zu einer Auflösung des Staates nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Kommunismus kam es nicht. Dies begründet eventuell Gauchets Frage nach der Verbindung zwischen Faschismus und Kommunismus:
Den „theoretischen“ Ursprung des Faschismus findet Gauchet in der „bürgerlichen Ideologie, die im wesentlichen [sic!] daran arbeitet, die gesellschaftliche Teilung im Kapitalismus zu verschleiern“ (Gauchet 1990: 214). Die Form der Verschleierung der Spaltung der Gesellschaft durch den Kapitalismus, ist, laut Gauchet, in den herrschenden Diskursen wiederzufinden, die „die verderbliche Doktrin“ des Klassenkampfes anprangern bzw. die Interessen von Kapital und Arbeit als übereinstimmend darstellen.
Dem gegenüber steht ein konservativer anti-kapitalistischer Diskurs, der wiederum „dem Kapitalismus vorhält, in die schöne, organische und ausgeglichene Totalität der traditionellen Gesellschaft den Konflikt eingeführt zu haben“ (Gauchet 1990: 215). Entscheidend hierbei ist für Gauchet, dass sich beide Diskurse durch ihre Annahme der einheitlichen Gesellschaft verbinden lassen (1990: 216, Hervor. im Original):
In dem einen wie dem anderen Fall bilden sich Herrschaftssysteme heraus, die in gleicher Weise auf dem Bestreben gegründet sind, den Konflikt auszulöschen oder die Teilung der Gesellschaft zu überwinden. So lässt sich also durchaus begründet von einer Komplementarität von Faschismus und Kommunismus sprechen.
(4) Die Lehre die Gauchet aus der ontologischen Verfassung des unauflöslichen Konflikts der Gesellschaft zieht, ist die Tatsache, dass damit auch das Projekt des Totalitarismus ewig illusorisch bleibt. Womit nicht gemeint ist, dass dadurch die Versuche des Totalitarismus sich dennoch realisieren zu wollen weniger real wären: „Der Totalitarismus ist ganz genau die Gewalt gewordene Illusion“ (Gauchet 1990: 218).
(5) Hieran anschließend widmet sich Gauchet der Frage, ob eine demokratische Gesellschaft die ihrer inhärenten Trennung anerkennen könnte. Auch wenn Gauchet davon ausgeht, dass es keine klare, bewusste Anerkennung des Konflikts in der Demokratie gäbe, so basiere die demokratische Gesellschaft darauf, dass „(…) sie insgeheim auf die Einheit verzichtet, die Konfrontation ihrer Mitglieder stumm legitimiert und stillschweigend der Hoffnung auf politische Einstimmigkeit aufgibt“ und damit „(…) ihre innere Zerrissenheit unsichtbar mit Sinn auflädt“ (Gauchet 1990: 222).
(6) Nachdem Gauchet der Demokratie die Möglichkeit zugesteht die Konflikthaftigkeit der Gesellschaft zu integrieren, fragt er im nächsten Schritt nach der Ontologie der gesellschaftlichen Teilung oder anders gesagt: nach der Natur des Politischen. Dabei formuliert er folgende Fragen: A) Kann die Teilung jemals abgeschafft werden? B) Ist die Existenz einer Gesellschaft ohne Teilung möglich? C) Was ist das Wesen der gesellschaftlichen Trennung? Und D) Wovon hängt die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft ab?
Anstatt wie Marx auf ökonomische Begründungen zurück zu greifen, behandelt Gauchet diese Fragen mit einem „radikalen Interpretationssprung“. Indem er davon ausgeht, dass sich die zentralen politischen Antagonismen in einer Gesellschaft nicht auflösen lassen und somit: „Die Teilung […] weder ableitbar noch auflösbar [ist]“ (Gauchet 1990: 224, Hervor. im Original). Er bestreitet somit eine vorgängige konstituierte Grundlage für den antagonistischen Gegensatz innerhalb der Gesellschaft und spricht von einer „ursprünglichen Teilung“ (Gauchet 1990: 224, Hervor. im Original).
(7) Wie konstituiert sich nun das Gesellschaftliche aus dem Politischen? Dazu führt Gauchet den Begriff der Macht ein. Macht ist, laut Gauchet, beherrscht durch die Spaltung zwischen einem Innen und Außen. Außerdem forme sie die Rolle einer symbolisch instituierten Instanz. Aber wie versteht Gauchet hier Macht im Zusammenhang mit dem Politischen?
Gauchet fügt hier die Dimension der Repräsentation mit ein. Macht übernimmt insofern die Aufgabe der Repräsentation, als dass sie eine „Andersheit“ gegenüber der Gesellschaft darstelle. Die Andersheit läge in ihrer „eitlen Nichtigkeit“, die eine Abschaffung aus rationaler Sicht begründen würde. Tatsächlich untersteht die Macht aber der „Notwendigkeit, die bildliche Darstellung einer Andersheit und Zeichen eines Außen zu sein“ (Gauchet 1990: 227). Hierdurch bildet sie einen Gegensatz zur Gesellschaft und erfüllt damit die Funktion der Identitätsstiftung im gesellschaftlichen Raum, wenn auch nur symbolisch.
Die Symbolik besteht in der Weise, dass sich das Außen, laut Gauchet, als Ort des Gesetzes, lesen lässt und nicht die Macht selbst. Das Gesetz wiederum erhält nur dadurch seine Gültigkeit, weil es als Verpflichtung für alle gesehen wird, ohne einen konkreten Inhalt zu benennen und kann so als symbolisch gesehen werden. „Wenn es eine Macht gibt, so aus dem Grunde, weil sich von einer Abwesenheit, die anzuzeigen Aufgabe der Macht ist, die Gesellschaft konstituiert“ (Gauchet 1990: 231).
Worauf Gauchet anschließend hinweist ist, dass bisher der Ort des Gesetzes oder anders formuliert, „der Daseinsgrund der gesellschaftlichen Organisation“ (das Politische), nicht innerhalb der Gesellschaft verortet wurde, sondern aus religiöser Perspektive in einem Gotteswesen. Im Zuge der Säkularisierung kann dieser Ort jedoch von menschlicher Macht eingenommen werden. „Die totalitäre Illusion schlechthin ist genau der Wille, dieses grundlegende Außen zu besetzen und von ihm aus die Gesellschaft im Namen des absoluten Wissens zu regieren, indem das Gesetz vollständig auf den menschlichen Bereich zurückgeführt wird“ (Gauchet 1990: 231). Die Folge sei die Auflösung des gesellschaftlichen Bandes und letztlich nur noch Zwang (Gauchet 1990: 232).
(8) Abschließend geht Gauchet noch einmal auf die Ontologie des „gesellschaftlichen Bandes“ ein. Dabei spielt der Konflikt die entscheidende Rolle für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, der er es ist, der die gesellschaftliche Organisation bzw. das Politische (permanent) infrage stellt und so die (dauerhafte) Möglichkeit für neue Strukturen öffnet.
Was für Gauchet an dieser Stelle noch von zentraler Bedeutung ist, ist die symbolische Instituierung. Die Akteur*innen sind sich demnach nicht über die Notwendigkeit ihrer antagonistischen Konflikte für die Herstellung einer Gesellschaft bewusst, allerdings dient „die Teilung der Gesellschaft […] gerade zur fortgesetzten Erzeugung des Gesellschaftlichen selbst“ (Gauchet 1990: 234).
Somit befindet sich, laut Gauchet, das Politische zum einen außerhalb der Gesellschaft, da es nie vollends bestimmbar ist. Zum anderen liegt das Politische auch genau innerhalb der Gesellschaft, da erst durch den Konflikt zwischen den Akteur*innen der Gesellschaft das Politische entsteht. „Diese doppelte Struktur des Entziehens beraubt der Behauptung einer letzten Bemeisterung des Gesellschaftlichen als auch dem Willen, der Erzeugung des gesellschaftlichen Bedeutung ein Ende zu setzen, jede Grundlage“ (Gauchet 1990: 235). Hieraus ergibt sich für Gauchet die unerschöpfliche, als auch nicht zu beendende Aufgabe des Politischen.
Zuletzt schließt Gauchet seinen Beitrag mit der Frage nach einem Realismus, der zu einer vernunftgeleiteten Gesellschaft führen könnte. Dieses Projekt kann gegebenenfalls als Grundlage für die Arbeiten zu agonalen Demokratietheorien gelesen werden. So hat Chantal Mouffe mit dem Begriff des Agonismus auf die „ontologische Unüberwindbarkeit des Konfliktes in Demokratien“ (Herschinger 2014: 21) hingewiesen.
Literaturverzeichnis
Gauchet, Marchel (1990): Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen. In: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 207–238.
Herschinger, Eva (2014): Agonismus. In: Daniel Wrana (Hg.): DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung. Berlin: Suhrkamp, 20–21.