Hans Blumenberg: Präfiguration

Realität oder Mythos? Derartig tritt der Mythosbegriff in allerlei Publikationen  als Gegensatz zu einer vermeintlich faktischen Wirklichkeit auf. Als in der Moderne längst überwundener Erfahrungsmodus haftet ihm der Eindruck des Phantastischen, Sagenhaften und schlichtweg Irrationalen an: Wenn er Sinn stiftet, dann ist dieser Sinn nicht beweisbar. Die gegenwärtige Renaissance des Nationalismus in Europa und der dazugehörigen Narrative legen jedoch nahe, dass Mythen auch im Zeitalter der Wissenschaft politische Relevanz beanspruchen. Man denke hier nur an Thesen zur vermeintlichen Bedrohung des nationalen Kollektivs wie sie bspw. von PEGIDA oder Erika Steinbach (CDU) vertreten werden.

In der politischen Theorie scheint das Interesse am Mythos überschaubar zu sein. Zwar hat es in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder Auseinandersetzungen mit dem Mythosbegriff gegeben, doch blieb es eher bei vereinzelten Veröffentlichungen (vgl. Flood 1996; Dörner 1996; Bizeul 2006; Bottici 2007; Münkler 2010; Rohgalf 2015). Einen gemeinsamen Bezugspunkt liefert hier Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos: Mit dem Titel seiner Mythologiestudie aus dem Jahr 1979 ist dessen zentrale Idee verbunden, nämlich die kontinuierliche Aus- und Überarbeitung von Mythen in der Kulturgeschichte, wodurch sie im Geschichtsverlauf zu Mythologemen werden, die jeweils aufs Neue zusammengesetzt und genutzt werden (vgl. Blumenberg 1979). Das Bild des einen Mythos des Sisyphos und anderen wird so zugunsten einer historischen Perspektive ad acta gelegt.

Mit Präfiguration erschien 2014 ein Manuskript aus Blumenbergs Nachlass, herausgegeben von Angus Nicholls und Felix Heidenreich. Der Untertitel des Bandes verrät bereits dessen Besonderheit. Hier erfolgt die Arbeit am politischen Mythos (vgl. Nicholls/Heidenreich 2014a). Dass der Mythologiestudie die politische Dimension fehle, war in den Rezensionen mehrmals bemängelt worden. Das Manuskript, welches eigentlich ein Kapitel der Studie werden sollte, zeigt, dass Blumenberg sich durchaus mit der politischen Instrumentalisierung des Mythos im Nationalsozialismus beschäftigt hatte, aber diesen Teil aus persönlichen Gründen zurück hielt (vgl. ebd.: 62).[1] So gilt es nun die politische Dimension des Mythosverständnisses bei Blumenberg anhand dieses Manuskripts weiter auszuarbeiten, um daraus Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen.

Die Präfiguration ist – das stellt Blumenberg gleich zu Beginn fest – eine Entscheidungshilfe: Durch den Bezug auf ein Vorbild, eine Vorgabe oder eine Vorausdeutung wird die Kontingenz der Entscheidungssituation bewältigt und die letztendliche Entscheidung legitimiert. Verbunden ist damit der Glaube daran, dass „erfüllt werde, was geschrieben steht“ (Blumenberg 2014: 11, Hervorh. im Orig.). So ist bereits die Legitimation als zentrale Funktion der Präfiguration angesprochen, was das Phänomen besonders für Untersuchungen zu Prozessen der Entscheidungsfindung relevant erscheinen lässt. Entgegen einer ausführlichen Abwägung wird durch die Bezugnahme der Anschein von Entscheidungssicherheit erweckt, „indem sie als gar nicht mehr dispositionsfähig hinstellt, was zu entscheiden war“ (ebd. 14). Die Infragestellung der Entscheidung soll so unterbunden werden.

Wichtig ist hierbei, dass die Vorgabe (Prägnat) keine feste Form hat, sondern – ganz im Sinne der Arbeit am Mythos – jeweils als Präfigurat in der Entscheidungssituation konstruiert wird: „Zwar ist Wiederholung die mythische Grundfigur […], doch wird das Wiederholte erst durch Wiederholung, durch diesen kontingenten Akt der Selektion, dessen Kontingenz zu verdrängen ist, zum mythischen Programm“ (ebd.). Aus dem Material der Geschichte muss eine Wahl für ein Präfigurat getroffen werden, wobei sich diese Wahl im Vollzug des Rituals für den Handelnden verbindlich darstellt. Darin besteht die „magische Sicherung“ (ebd.: 17) der Handlung. Allerdings gehen mit diesem Prozess einige Voraussetzungen einher, die den Charakter der Vorgabe betreffen.

Die erste dieser Voraussetzungen wird bereits im ersten Satz genannt: Die Virulenz der „mythische[n] Denkform als Disposition zu bestimmten Funktionsformen“ (ebd.: 9). Ebenso wie bereits Adorno und Horkheimer mit der These, die „Aufklärung [verstricke] mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie“ (Horkheimer/Adorno 1969: 18) stellt Blumenberg hier fest, dass der Mythos im Zeitalter der Moderne keineswegs verschwunden ist.[2] Anstatt über eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Aufklärung zu diesem Schluss zu kommen, argumentiert Blumenberg jedoch anthropologisch, wenn er die Präfiguration vor dem Hintergrund der Bedeutsamkeit in einen funktionalen Zusammenhang setzt. Bedeutsamkeit verweist auf das Bedürfnis des modernen Subjekts nach einer Wertigkeit der Dinge, die nicht in der „objektiven Gegenstandswelt der exakten Wissenschaften“ (Blumenberg 1979: 77) aufgeht, sondern das Subjekt in seiner Endlichkeit erfüllt: „Gegen den Schwund strikter Bedeutungen beginnt es Bedeutsamkeiten zu setzen“ (ebd.: 187). Das wissenschaftliche Weltbild vermag dem modernen Subjekt dessen ursprüngliche Angst, den Schrecken vor der Natur, nicht vollends zu nehmen, sodass die Disposition für mythische Denkformen bestehen bleibt. Gerade im geschichtlichen Prozess der Arbeit am Mythos, welcher Bedeutsamkeiten schafft, wird diese diffuse Angst qua Benennung in gerichtete Furcht gewandelt, die wiederum Komplexität reduziert (vgl. Nicholls/Heidenreich 2014b: 96f). Die Präfiguration als Entscheidungshilfe stellt eine Facette dieser Funktion dar

Zweitens ist die Vagheit der bedeutsamen Vorgabe auf einer pragmatischen Ebene relevant. Denn je ungewisser das Eintreten der erwarteten Handlungsfolge ist, desto vorteilhafter wird die Ungenauigkeit der Vorgabe. Allerdings muss das in der Präfiguration nachvollzogene Material drittens Prägnanz aufweisen können, um Bedeutsamkeit zu entfalten. Gerade diese Erfordernisse werden von Mythologemen erfüllt, die aufgrund ihres narrativen Charakters sowohl interpretative Offenheit als auch eine Dramaturgie aufweisen. Eben diese Prägnanz der – zum einen gegebenen und zum anderen neu kombinierten – Bezugsfigur gilt es in der Entscheidungs- als Konkurrenzsituation gegen andere zu nutzen, um sich durchzusetzen (vgl. Blumenberg 2014: 14f). In ihrer Funktion als Entscheidungshilfe wird die Präfiguration zur rationalen Legitmationsfigur „einer sprachindifferenten Rhetorik“ (ebd.: 13) in der Entscheidungssituation. Dass sie in Variationen auftritt, erläutert Blumenberg anhand der vielfältigen Beispiele, wie Alexander des Großen, Friedrich des II., Napoleon und zuletzt Hitler, die zugleich den potentiell fatalen Charakter dieser Figur verdeutlichen. „Das Präfigurat ist verstärkungsfähig“ (ebd.: 15) und kann daher in seinem Ausgangspunkt, der Form und der Ausrichtung umgedeutet werden, um einen Anstrich des Natürlichen hervorzurufen. Mit der Selbstmythisierung kann somit der Wirklichkeitsverlust einhergehen.

Ohne hier weiter auf die Analysen Blumenbergs entlang dieser Akteure einzugehen, kann festgehalten werden, dass Präfiguration eine gelungene Konkretisierung der Arbeit am Mythos darstellt. Anstelle einer weiteren Beschäftigung mit der hochkulturellen Rezeptionsgeschichte antiker Mythologeme verdeutlicht die Präfiguration als Handlungsweise die Mythisierung historischer Versatzstücke in politischen Entscheidungsprozessen. Weitere Untersuchungen entlang der Frage, welche politischen Ereignisse der letzten Jahre als präfiguriert verstanden werden könnten, erscheinen so auf den ersten Blick vielversprechend.

Notwendig zu diskutieren wäre dabei allerdings Blumenbergs anthropologisches Modell der Bedeutsamkeit sowie dessen Bezüge auf Arnold Gehlens These des Menschen als Mängelwesen. Hilfreich wäre an dieser Stelle eine Einbettung der Präfiguration in aktuelle kultursoziologische und politikwissenschaftliche Ansätze, welche die steigende Komplexität politischer Entscheidungen sowie politischer Beteiligungsformen berücksichtigen. Damit wäre eine Annäherung an die Frage möglich, was gegenwärtig von wem zu Präfiguraten gemacht werden kann und damit mythischen Status erreichen könnte. Forschungspraktisch müsste dann gefragt werden, welches Material sich für welche Untersuchungen zu Präfigurationen eignet. Denn im Kontext eines erstarkenden Nationalismus und einer Vielzahl von Akteuren, die sich in den damit einhergehenden Debatten äußern, wären sowohl diskursanalytische Verfahren als auch explorative Studien zu den Praktiken des politischen Mythos interessant. Anstatt auf der Ebene der Hochkultur und deren Rezeption zu verbleiben könnte so konkreter auf den Ort der politischen Mythen eingegangen werden. Fraglich wäre dann zuletzt, welchen Gewinn aus dem Mythosbegriff zu ziehen wäre, wenn im Rahmen dieser Ansätze – bspw. mit der Rede von leeren Signifikanten, Codes und weiteren – bereits hilfreiche Konstrukte vorhanden sind. Denn eine forcierte Rehabilitation des Mythosbegriffs birgt jederzeit das Potential den Begriff entweder pejorativ für eine Abgrenzung zu einem als irrational etikettierten Anderen oder einseitg emanzipativ zu verstehen und damit dessen Gefahrenpotential für Vereinnahmung von Rechts außer Acht zu lassen.

[1] Wie der Herausgeber des Bandes verdeutlichen, wurde Blumenberg im Nationalsozialismus verfolgt, sodass es nicht verwundert, wenn er in einem weiteren Manuskript aus dem Nachlass, auf das im Typoskript von Präfiguration verwiesen wird, feststellt: „Napoleon ist der Mann, der mich mehr und mehr beschäftigt, je weniger ich über Hitler nachdenken kann“ (Blumenberg 2014: 55).

[2] Dass Blumenberg sich in Arbeit am Mythos nicht mit der Dialektik der Aufklärung beschäftigte, wurde ebenfalls mehrfach kritisch angemerkt (vgl. Blumenberg 2014: 124f).

Literatur

Bizeul, Yves (2006): Politische Mythen, Ideologien und Utopien. Ein Definitionsversuch. In: Mythos No. 2. Politische Mythen. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Blumenberg, Hans (1979): Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Blumenberg, Hans (2014): Präfiguration. In: Nicholls, Angus/Heidenreich, Felix (Hrsg.): Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin: Suhrkamp, S. 7-51.
Bottici, Chiara (2007): A Philopsophy of Political Myth. New York: Cambridge University Presss.
Dörner, Andreas (1996): Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewußtseins der Deutschen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Flood, Christopher (1996): Political Myth. A Theoretical Introduction. New York, London: Routledge.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1969): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer.
Münkler, Herfried (2010): Die Deutschen und ihre Mythen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Nicholls, Angus/Heidenreich, Felix (2014a): Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin: Suhrkamp.
Nicholls, Angus/Heidenreich, Felix (2014b): Nachwort der Herausgeber. In: dies. (Hrsg.): Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin: Suhrkamp, S. 83-146.
Rohgalf, Jan (2015): Jenseits der großen Erzählungen. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Veröffentlicht von

Daniel Staemmler

studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Westfälischen-Wilhelms-Universität und führt dies an der Humboldt-Universität zu Berlin fort. Seit 2015 ist er Mitglied der AG Politische Theorie der DNGPS und beschäftigt sich mit modernen Demokratietheorien, interpretativer Politikanalyse und Internetpolitik.

2 Gedanken zu „Hans Blumenberg: Präfiguration“

  1. Dem Alltagsverstand folgend mag der Begriff „Mythos“ das Bild eines seefahrenden Mannes zu Zeiten des antiken Griechenlands erwecken – Odysseus. Sein Leben verbrachte der König Ithakas auf hoher See, verschiedenen Gefahren, wie Zyklopen oder Sirenen trotzend, die ihm die Götter entgegenstellten. All diese Strapazen nahm er auf sich, um erneut den Thron seiner Heimatinsel zu besteigen. Und so erinnert dieser Mythos an die aktuelle Lage der EU: Wie der seefahrende König sehen wir uns als Union vor schicksalshafte Herausforderungen gestellt – Flüchtlingsströme, Eurokrise, Neonationalismus, um nur einige zu nennen. Es gilt diese mit argonautischem Geschick zu überwinden, um gemeinsam den sicheren Weg in den heimischen Hafen zu finden – ein vereintes Europa. Es ist sich den legitimatorischen Schwierigkeiten anzunehmen, um sie gemeinsam zu überwinden, statt ihnen ängstlich den Rücken zu kehren. Das Fazit ist simpel: Nur, wenn wir, wie Odysseus, unsere Mannschaft zusammenhalten, können wir diese tückische Reise überstehen. Aus diesem Grund gilt es den „Brexit“ zu verhindern.

    In dieser Weise könnten einige Gegner des Austrittes in der Vorzeit des Referendums von dem Phänomen der Präfiguration Gebrauch machen (vgl. Blumenberg: 9)*. In dieser Heuristik, der Wiederholung einer mythischen Erzählung (vgl. Ebd.: 9), spiegeln sich die drei Merkmale wieder, die mein Vorredner in Anschluss an Hans Blumenberg formulierte: Die Präfiguration des Odysseus erfüllt die Funktion, die Entscheidung über eine politische Positionierung so zu simplifizieren, dass sie als nicht entscheidungsnotwendig erscheint. Dem entscheidenden Subjekt scheint es somit offenkundig, dass nur ein gemeinsames Europa benannte und künftige Herausforderungen überstehen kann. „[W]as schon einmal getan worden ist, bedarf unter der Voraussetzung der Konstanz der Bedingungen nicht erneuter Überlegung, Verwirrung, Ratlosigkeit, es ist durch das Paradigma vorentschieden“ (Blumenberg: 9).

    Sie müssen also solchen Handlungen folgen, die auf den Erhalt der Mannschaft ausgerichtet sind. Dabei bleibt die Präfiguration weitgehend vage. Es ist nicht einmal eine holzschnittartige Wiedergabe der Odyssee, sondern die Formulierung einer Bezugsfigur in einem bestimmten Moment und ausgehend von einem spezifischen Entscheidungskontext, der als solcher nicht zwingend erkannt wird – dem britischen Referendum. Der Mythos des Odysseus entsteht erst in seiner kontextsensiblen Verwendung, „auf daß erfüllt werde, was geschrieben steht – sobald das Erfüllende das Erfüllte erkennen läßt“ (vgl. Ebd.: 11).

    Schließlich bedarf es einer gewissen Prägnanz des Entscheidungskontextes, sodass auf einen ebenfalls bedeutsamen Mythos zurückgegriffen werden kann. Die präfigurierte Odyssee kann die Entscheidungsfindung in dem historisch einzigartigen Votum nur dann erleichtern, lassen sich besagte Gegner von der Reise des Odysseus als Präfiguration überzeugen (vgl. Ebd.: 10).

    Doch scheint an diesem Beispiel etwas zu stören. Es mag an dem notwendigen Bezugskontext liegen, der, ausgehend vom hier vorausgesetzten Text Blumenbergs, die Grenzen einer Präfiguration markieren. Blumenberg zeigt, ohne in seinem Text weiter darauf zu verweisen, dass ein Präfigurant eine minimale Interferenz mit seinem Präfigurat bedarf, was an seinen Beispielen auf Raum (vgl. Ebd.: 34), Zeit (vgl. Ebd.: 11) oder (persönliche) Eigenschaften (vgl. Ebd.: 40-49) verweist. Ist dies der Fall, stellen sich mir folgende Fragen: Besteht hier womöglich eine Unterscheidung zur rhetorischen Figur der Analogie, welche eine solche Interferenz nicht inhaltlich, sondern logisch bedarf? Oder ist erstere als Variante der Präfiguration zu fassen? Kurz: Welche Qualität besitzt die Interferenz?

    Mehrfach betont Blumenberg, dass es sich bei der Präfiguration um eine Figur der Rhetorik handelt, die Mythen als potentiell prognostische Wissensstruktur nutzt und von handlungspraktischen Konsequenzen bis zur Naturalisierung des Mythologems wirken kann: „[Präfiguration; FM] beruhigt über Motivation, schirmt gegen Unterstellungen ab, indem sie als gar nicht mehr dispositionsfähig hinstellt, was zu entscheiden war“ (Ebd.: 14). Als interessant erweist sich die Frage nach den sozialkonstruktiven Effekten eines Mythos, der sich in Gebäude, Denkmäler oder Schriften manifestiert – man denke nur an die Bibel. Was aber lässt eine Wissensstruktur mythisch erscheinen? Es ist möglich, dass die Antwort in der Differenz zwischen bedeutender Geschichte und der subjektiv-bedeutenden Entscheidungssituation liegt, die in Blumenbergs Beispielen vor allem historischer Natur ist. So war Hitler nie im russischen Bürgerkrieg der 20er Jahre zugegen und spekulierte 1941 doch über die Wiederholung der Geschichte in Form einer russischen Zangenoffensive an der Ostfront (vgl. Ebd.: 33-35). Erst die Lückenhaftigkeit besagter Wissensstruktur kann, so die These, eine Mythologisierung ermöglichen.

    Welches sind nun aber die Präfigurationen, die für ein Subjekt in einer spezifischen Situation in Frage kommen können? Es muss eine bewusste oder unbewusste Auswahl stattfinden, die von der Konstitution des Subjekts abhängt. Hitler orientierte sich an den Kriegsherren vorheriger Epochen, PEGIDA-Anhänger_innen nutzen die mythische Angst vor dem Untergang des Abendlandes und ihre Gegner_innen die vor dem Untergang der Demokratie. Nutzt nicht auch eine Studentin in ihrer Master-Arbeit die mythische Systemtheorie Luhmanns, welche präfigurierte Antworten auf soziale Phänomene liefert, die es folglich nicht mehr zu eruieren gilt, unbewusst der Interpretationsleistung, mit welcher sie die Theorie an ihre vermeintliche Entscheidungssituation anpasst?

    Die Präfiguration Blumenbergs bleibt vage, denn ihn scheint nicht der Inhalt eines Mythos zu interessieren, sondern dessen Entscheidungseffekte. Wie zuvor bereits angemerkt wurde, liegt ein Vergleich mit der Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe nahe, welche sich von diskursiven Elementen, über Äquivalenzketten bis hin zu sedimentierten hegemonialen Projekten aufbaut und beansprucht eine eigene Sozialtheorie zu sein (vgl. Laclau/ Mouffe: 132-175; Wullweber 29-58). Die Präfiguration liefert ein gutes Beispiel für die Formierung eines hegemonialen Projektes durch eine verbindende Äquivalenz, dem Mythos. Als Präfigurant verstärkt dieser ein prohegemoniales Handeln, wie den Verbleib in der Europäischen Union und stellt dieses als nicht dispositionsfähig heraus (vgl. Blumenberg: 9, 15). Diese strategische Verwendung kann es sein, die Blumenberg ermahnt, wenn er schreibt: „Die Verwechslung von Rhetorik und Metaphysik gehören zu den Lastern unserer Tradition ebenso wie ihrer Interpreten“ (Blumenberg: 25).

    Doch wird ein solches Projekt wie die darin eingebetteten Subjekte stets in ihrer Konstitution unterbrochen, disloziert (Marchart: 36). Bei Laclau und Mouffe finden wir die Antwort in gegnerischen hegemonialen Projekt, welches u.a. den Mythos zu negieren versuchen. „Die eine Figur verlangt die Wiederholung der Geschichte, die andere den Ausschluß der Wiederholung“, betont auch Blumenberg (Blumenberg: 36). Doch eröffnet die Präfiguration eine weitere Perspektive, denn ein Präfigurant wird, wie oben angemerkt, nie mit dem Präfigurat übereinstimmen, so stark die Interferenz auch sein mag (vgl. Ebd. 43). Der gemeinsame Mythos wird stets mit der Handlungssituation in Konflikt geraten und so die Äquivalenzen des hegemonialen Projektes aufbrechen (vgl. Laclau/ Mouffe: 166-171).

    Es lassen sich weitere Anknüpfungspunkte zwischen diesen beiden Ansätzen finden, wie den Umgang mit Kontingenz, Naturalisierungseffekte oder der Anthropologie eines Mangelsubjekts. Blumenberg offenbart auf Anhieb gewisse Verbindungspotentiale, zumindest zur postmarxistischen Hegemonietheorie. Doch auch weitere Verbindungen sind nicht auszuschließen, bringt die Präfiguration eine gewisse Offenheit mit sich. Vielleicht ist eine solche Suche nach Verbindungspotentialen fruchtbarer, als die nach einem Platz zwischen den Theorien – besonders, wenn wir nicht Blumenberg zum Odysseus unserer Forschung werden lassen wollen.

    – Blumenberg, Hans (2014): Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin: Suhrkamp.
    – Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal (2012): Hegemonie und radiakle Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 4. Aufll. Wien: Passagend Verlag.
    – Marchart, Oliver (2013): Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
    – Wullweber, Joscha (2012): Konturen eines politischen Analyserahmens. Hegemonie, Diskurs und Antagonismus. In: Iris Dzudzek, Caren Kunze und Joscha Wullweber (Hg.): Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag, S. 29–58.

    * Die folgenden Ausführungen beziehen sich einzig auf den angegebenen Text Hans Blumenbergs.

  2. Vielen Dank für den aufschlussreichen Kommentar! Die Ausarbeitung der Verbindung zwischen Blumenbergs Präfiguration und der Diskurstheorie von Laclau/Mouffe finde ich äußerst aufschlussreich. Blumenbergs Manuiskript lässt sich so als eindrucksvolle Illustration politischer Subjektivität in Entscheidungssituationen lesen. Denn gerade die Problematisierung der Interferenz zwischen Präfigurat und Präfiguranten macht die Vorläufigkeit bzw. Unabgeschlossenheit von Subjektpositionen deutlich. Demnach stimme ich vollkommen zu, dass eine tiefergehenden Untersuchung sicherlich einige weitere Anknüpfungspunkte offenbaren würde. Zu fragen, wäre dann welchen Platz der Mythos bzw. die Arbeit am Mythos in der hegemonialen Diskurstheorie einnehmen könnte, etwa als strategisches, rhetorisches Mittel, als leerer Signifikant oder ist der Mythos schon ein Diskurs? Eine exemplarische Untersuchung der Verwendung von Mythologemen in einem hegemonialen Projekt bliebt hier definitiv interessant, um stärker auf diese Fragen einzugehen. Zugleich könnt mit einer solchen Einordnung der Präfiguration in die hegemoniale Diskurstheorie die problematisch erscheinende Fundierung der Arbeit im Mythos in einer universalen Anthropologie bearbeitet werden. Abschließend bin ich mir dieser vielversprechenden Verbindung immer noch unsicher, was dann vom Mythos als Begriff bleibt. Verweist er als Strategie abseits eines ‚wahren‘ Kerns auf den Herrschaftsanspruch in hegemonialen Projekten oder ist er einfach eine weitere Form der Erzählung, vllt in dramatisierter Form?

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