Defizite heutiger Demokratievorstellungen
Für Rancière beschränkt sich Demokratie weder auf eine Form des Regierens noch beschreibt sie ausschließlich eine Art und Weise des Zusammenlebens. Da sich heute praktisch jeder Staat als Demokratie versteht, verbindet Rancière eine grundlegende Krise mit dem Begriff. Für Rancière stellen sich nämlich heutige „Demokratien“ gegen die Ideen der Demokratie selbst. Staaten sind demnach nur nach Außen scheinbar demokratisch, nach Innen soll möglichst kein Einfluss auf Entscheidungen seitens der Bevölkerung geltend gemacht werden können. Als Beispiel führt er die Reaktion auf das französische „Nein“ zur Verfassung der EU an. Hier hätten PolitikerInnen die BürgerInnen entmündigt, indem der Vertrag trotzdem später ohne nochmalige Befragung übernommen wurde. Demokratie werde damit ad absurdem geführt, da nun die eigentlichen DemokratInnen (das Volk) zum Feind der Demokratie erklärt wurden.
Rancière selbst liefert keine positive Bestimmung von Demokratie im Sinne einer analytischen und erschöpfenden Definition. Er schlägt vor, dass Demokratie nicht Gleichheit zum Ziel haben sollte, sondern sie immer schon voraussetzen müsste. So verstanden müsste Demokratie etwas anderes als das Recht des Stärkeren über die Schwachen, wie es bei Rousseau beschrieben wird. Nur wenn ein Anspruch auf Macht seitens derer geltend gemacht werden kann, die keine Macht haben, dann könne Demokratie funktionieren.
Rancière beschreibt die Möglichkeit der Demokratie als das, was jenseits des bestehenden demokratischen Konsens gedacht und praktiziert werden könne. Demokratie müsse dabei immer aktualisiert, d.h. gelebt werden. Hierfür gibt es keine Wissenschaft, keine konventionellen Baupläne. Demokratie muss immer gelebte Praxis sein.
Geschichte spielt in seinem Denken eine wichtige Rolle, denn sie scheint das Archiv zu sein, auf das bestehende Kämpfe zurückgreifen könnten. Dabei gelten allerdings keine historischen Notwendigkeiten. Vielmehr könne der jeweilige Kontext mit emanzipatorischer Geschichte ins Verhältnis gesetzt werden. Neue Generationen versuchten an vorherige Kämpfe anzuschließen und sie sich historischer Werte und Hoffnungen wieder zu bemächtigen. In sofern scheint aktualisierte Geschichte das Arsenal für zukünftige Möglichkeiten von demokratischen Praxen darzustellen.
Persönliche Betrachtung
Für Rancières anfängliche Beobachtung gibt es aus meiner Sicht viele Belege. Demokratien präsentieren sich nach außen plakativ demokratisch. Regt sich aber Widerstand im Innern, werden demokratische Werte außer Kraft gesetzt, um die Demokratie zu schützen. „Wir haben eine Stimme, aber keine Wahl“ scheint nach wie vor die Diagnose der Stunde zu sein. Bankenrettung, Spardiktat, GroKo. Außer im Falle des SPD-Mitgliederentscheids wurde zu diesen Themen ja auch keiner gefragt. Im Falle des Mitgliederentscheids bekam die Basis ja auch nicht im eigentlichen Sinne vor die Wahl gestellt. Hätten sie anders gewählt, wäre der Entscheid in den Augen der politischen Elite missglückt, ein Beweis dafür, dass „wirklich wichtige“ Entscheidung eben von einer kleinen Elite getroffen werden müssen. Daher auch das Triumphgeheul der SPD-Spitze nach Verkündung der Ergebnisse. Auch viele KommentatorInnen sagten ein paar Hunderttausend SPD-Mitglieder könnten unsere ganze Demokratie ins Wanken bringen. Ein Totschlagargument dafür, dass es „anders im Moment einfach nicht anders geht“. Sobald es hierzulande politisch wird, erschrecken sich Eliten und berufen sich auf den rechtsstaatliche Verfassungsordnung im Einklang vieler Schreiberlinge. Dies wird m.E. sehr deutlich in Asyl- und Einwanderungsfragen. Hier wird so getan, als ob sich alle Bestimmungen für „Ein- und Ausreise“ sowieso schon im Gesetzestext befindet. Manchmal hört es sich dann an, als würden die Paragrafen höchst selbst Abschiebungen durchführen.
Für Rancière ist Demokratie das, was über die bestehende Idee von Demokratie hinaus gedacht werden kann. Demokratie beschreibt also immer die Möglichkeit, dass sie nicht das ist, was wir gerade Demokratie nennen. Hört sich eigentlich nach nicht mehr an, als die Freiheit des Andersdenkenden. Scheinbar geht es aber Rancière um eine nicht-Schließung dessen, was wir Demokratie nennen. Denn wenn alle Demokraten sind, haben wir offenbar ein Problem. Weil alle Demokraten sind, kann es keiner sein. Es gibt kein Außen von dem aus man bestimmen könnte, wer eine Demokratin ist.
Vielleicht sollten vielmehr theoretische Texte bzw. politische Theorien in Form von Dialogen/Interviews präsentiert werden? Jedenfalls hat sich das Interview mit Rancière gut gelesen, schade ist die Kürze des Interviews.
Zur nun wiederholt aufgetretenen These der Vieldeutigkeit des Demokratiebegriffs will ich anmerken, dass damit doch nicht die Frage des Aufgebens des Demokratiebegriffs verbunden sein kann. Wenn alle Staaten bzw. besser gesagt Regierungen sich demokratisch nennen, obwohl empirisch doch nicht unerhebliche Unterschiede der politischen Systeme und Prozesse zu beobachten sind, dann können doch nicht alle, die es behaupten, auch demokratisch sein. Rancières eigene Arbeitsdefinition von Demokratie, die du fast zutreffend zitierst: „So verstanden müsste Demokratie etwas anderes als das Recht des Stärkeren über die Schwachen, wie es bei Rousseau beschrieben wird. Nur wenn ein Anspruch auf Macht seitens derer geltend gemacht werden kann, die [nicht stark genug sind, Verbesserung SD], dann könne Demokratie funktionieren“, liefert doch ein kleines Kriterium für die Beurteilung von politischen Körpern als Demokratie oder Nicht-Demokratie. Letztendlich ist es wieder das Problem der Definition von Demokratie, und da hapert es auch bei Rancière. Vielleicht fehlt da auch der Mut, die Nicht-Demokratien mit passenden Gegenbegriffen (Diktatur, Oligarchie, Aristokratie …) zu versetzen?
Eine zweite Anmerkung zu Rancières Vorschlag, dass Demokratie Gleichheit zwar als Voraussetzung, aber nicht als Ziel betrachten sollte. Dies wirft für mich die Frage auf, was meint Rancière mit Gleichheit. Das ist nämlich auch alles andere als ein eindeutiger Begriff. In einer Fußnote spricht er von Wissensgleichheit. Doch das liegt irgendwie nicht nahe, wenn man von Gleichheit als Voraussetzung der Demokratie spricht – wobei Rousseau doch viel wert auf die Aufgeklärtheit, auf das „wohl unterrrichtet sein“ gelegt, damit der Gemeinwille auch gute Gesetze beschließen kann. Gewöhnlich wird bei den Liberalen vorausgesetzt, dass alle vor dem Gesetz gleich sein müssen, um von Demokratie bzw. demokratischen Rechtsstaat zu sprechen. Man kann auch (wie Rousseau?) eine sozial, ethnisch oder kulturell homogene Gesellschaft zur Voraussetzung einer Demokratie erklären. Aber für meinen Punkt ist eigentlich auch uninteressant:
Wenn Demokratie Gleichheit zur Voraussetzung hat, wie soll sie erhalten werden können, wenn Gleichheit nicht zugleich zum Ziel der Demokratie ernannt wird? Ist also alles prima, wenn Gleiche eine Demokratie begründen und dann im Laufe der Zeit immer ungleicher (ungleicher vor dem Gesetz oder einkommensungleicher etc.) werden? Dann fehlt doch irgendwann die Voraussetzung der Demokratie, oder nicht? Diesen Gedanken finde ich nicht nachvollziehbar bei wie Rancière, wahrscheinlich weil er sein Gleichheitsverständnis nicht erläutert.
Danke euch für den Beitrag und den Kommentar!
Zur Frage der Gleichheit und der Demokratie: Ich denke, Ranciere argumentiert, dass Demokratie nichts mit Gleichheit zu tun hat, insofern man denkt, dass Demokratie die Gleichheit aller Menschen mit sich bringt oder zum Ziel hat. Oder auch nur eine völlige Gleichheit vor dem Gesetz. Ich denke das lässt sich zwar empirisch beobachten, aber als Begriff schafft Demokratie keine Gleichheit, sondern funktioniert nur unter der Voraussetzung von Gleichheit. Ohne die (vorhergehende) Einsicht, dass alle Menschen (ideell) gleich seien, wäre Demokratie ja völliger quatsch, dann wäre eine Monarchie oder Technokratie besser, wo die schlauesten, besten und fähigsten über den Rest herrschen. Anzuerkennen, dass alle Menschen gleich sind, wie in der Proklamation der Menschenrechte, macht Demokratie möglich.
Dann verstehe ich Ranciere auch, wenn er die (existierende) Demokratie gegen die (ideelle/begriffliche) Demokratie stellt. Einmal mehr sind wir an dem Punkt wo die Demokratie nicht demokratisch zu sein scheint, aber dann kommt ein wichtiger Einwand: Ich finde es sehr interessant, dass Ranciere hier auf dem Wert des Begriffes der Demokratie beharrt und ihn zum Gegenstand eines Kampfes macht. Es geht nicht darum Demokratie abzulehnen, sondern sich diesen Begriff wieder zu erstreiten, seine Beudeutung zu ändern. Im Endeffekt ließe sich Rancieres Bestimmung von Demokratie schon als ein solcher Versuch des Kampfes lesen. Ich würde behaupten, dass Demokratie als Begriff heute tatsächlich weniger Beteiligung und Selbstverwaltung als vielmehr – wie es sehr schön im Beitrag von Jasper heißt – Einhaltung von Recht und Ordnung, Paragraphen und Verfassung zum Gegenstand hat. Also gänzlich verschieden ist von Rancieres ‚Definition‘.
Das hieße auch, wie im vorigen Kommentar, dass Demokratie – zumindest so wie Ranciere sie versteht – tatsächlich unterminiert wird oder in Gefahr ist, indem Demokratie ‚umgedeutet‘ wird von einer Herrschaft ‚ohne Grund‘ zu einer Herrschaft im Namen von Effizienz, Output, Ordnung etc. Würde die intellektuelle Aufgabe dann also darin bestehen Demokratie anders zu besetzen?