In Kapitel 1 stellt Geuss sein Programm vor, dass die erste Annäherung an den von ihm vorgeschlagenen Realismus umreißt. Er fragt, welche Aufgabe der politischen Philosophie zukommt, wenn angenommen wird, dass menschliche Interaktion „störungsanfällig, instabil und fehlerbehaftet“ (35) verläuft. Was Geuss Realismus nennt, ist ein Verständnis von Politik, dass ihn danach fragen lässt „was in einem bestimmten Fall gut ist“ (47). Damit konkretisiert er seine bereits im Vorwort angekündigte Abkehr von metaphysischen Auffassungen von Politik. Geuss diskutiert fünf Aufgaben der politischen Theorie in diesem Kapitel.
(1) Verständnis. Geuss stellt die Frage nach dem Selbstverständnis der politischen Philosophie. In welchem Maße können Verallgemeinerungen formuliert werden? Sind naturwissenschaftsgleiche Gesetze auf die gesellschaftliche Ebene übertragbar? Welchen Status haben hierbei geschichtliche Einsichten? (57-58)
(2) Beurteilung. Geuss weißt darauf hin, dass es „eine einzige Dimension, anhand der allein wir in jeder Hinsicht das bessere System von dem weniger guten unterscheiden, (…) offensichtlich nicht“ gäbe (59). Dabei kritisiert er Beurteilungsformen, die ethischen Überlegungen Vorrang geben. Für Geuss ist eine ethische, „richtige“ Beurteilung ein Gradmesser unter vielen, dem zu Unrecht Vorrecht vor ästhetischen, einfachen oder durchschaubaren Maßstäben gegen wird.
(3) Orientierung. Geuss spricht über das, aus seiner Sicht weitverbreitete Bedürfnis „im Denken, Fühlen, Hoffen und Handeln“ (60) etwas zu finden, das sinnvoll erscheint. Die Einstellungen über das, was als ein sinnvolles Leben gelten kann, habe sich historisch mehrfach gewandelt. In der Antike und im Mittelalter wurde der Sinn in der Suche nach Glückseligkeit allgemein vorausgesetzt – umstritten war lediglich wie Glückseligkeit erreicht werden könnte. In christlich geprägten Gesellschaften gab es das Versprechen, dass die Sinnfrage von einem monotheistischen Gott beantwortet werden könnte. Bei Marx und Nietzsche werden diese „metaphysischen Bedürfnisse“ (63) als illusionäres Leiden problematisiert. Mit eben dieser Haltung kritisiert Geuss „moderne Gesellschaften“, die „sich sehr intensiv [bemühen], ihr theoretisches und empirisches Wissen und ihre Evaluationssysteme zu mobilisieren, um eine übergreifende Sinnstruktur zu finden“ (64).
(4) Begriffliche Innovation. Geuss glaubt, dass „die politische Theorie (…) ein neues gedankliches Instrument oder begriffliches Werkzeug beisteuern [kann], um bestimmten Menschen zu helfen, gewisse Probleme erst einmal zu verstehen, zu definieren und somit anzugehen“ (66). Dies könne folgenschwere Implikationen haben, wie Geuss an dem Beispiel des „Staates“ deutlich machen möchte. Die prominente Verwendung des Wortes „Staat“ hätte zur Folge, dass Menschen ein Verhältnis zu ihrem „Anstaltsbetrieb“ gewännen und folglich eine Haltung zu ihm einnehmen würden. Der Begriff des „Staates“ weißt damit nach Geuss weit über die rein deskriptive Ebene hinaus, da der „Staat“ im wörtlichen Sinn in das Leben derer hineinregiert, in dem der Staat Herrschaft beansprucht. Dabei verhielten sich einzelne Ansprüche an den Staat, etwa seitens Hobbes oder Weber zur Realität insofern, als dass sie die Realität in „unvorhersehbare[r]“ Weise formten. Menschen zeigen sich sogar bereit, ihr Leben für Staaten zu opfern (74).
(5) Ideologie. Geuss versteht Ideologien als „systematische Formen gesellschaftlichen falschen Bewusstseins“ (75), die es zu analysieren und entlarven gelte. Ideologie beschreibt er weiterhin als eine bestimmte Konfiguration der Macht, „die gewisse kontingente, veränderliche Charakteristika unserer menschlichen Existenzweise wie allgemeingültige (…) Merkmale erscheinen“ (78) lasse. Eine Ideologie könne daran erkannt werden, dass sie Partikularinteressen als Allgemeininteressen ausgebe. Die politische Theorie könne sich entweder zum Gehilfen von Ideologien wie etwa dem „Dritten Weg“ Tony Blairs machen, oder sich ideologiekritisch sich mit jenen Machtverhältnissen auseinandersetzen, die für das Überleben einer Ideologie verantwortlich sind.
Erstmal vielen Dank für die tolle Zusammenfassung, Jasper. Ich würde einfach nochmal zwei Gedanken zum gelesenen Kapitel formulieren.
Erstens finde ich es sehr spannend, dass wir nach der Einleitung, in der Geuss ja sehr grob alles so ein wenig angerissen hat, hier erstmal eine kurze Rechenschaft über sein weiteres Vorgehen vorgelegt bekommen. Ist nicht so gängig für eine solche Kritik, oder? (Ich mag mich irren.) Also mir scheint, dass er hier ziemlich klar 4-5 Grundpfeiler und Annahmen seiner vorgetragenen Kritik umreisst, noch bevor er sich ausgiebig an den Autoren und Arten von Theorie abgearbeitet hat, die ihn stören. Wir erhalten also einen kleinen Einblick in Geuss‘ Werkzeugkiste, um dann zusammen zur ‚Tat‘ zu schreiten. Interessant finde ich hier immer wieder die verschiedenen Autoren, die er zusammenbringt. Von Lenin zu Nietzsche usw. finde ich ziemlich beeindruckend und spricht irgendwie für eine ’schöne‘ Art von Denken.
Besonders gut gefällt mir auch die von Jasper nochmal rausgestellte Idee der begrifflichen Innovation. Ich bin sehr gespannt, wie das die von Geuss bereits als Feindbild skizzierte rawlssche Theorie beleuchtet. Bei Rawls ist diese Idee von Begriffen als sozialen Gebilden ja quasi garnicht vorhanden. Da geht es ja nicht um ‚innovative‘ Ideen, sondern um die ‚Entdeckung‘ immer schon dagewesener Gerechtigkeitsprinzipien. Begriffe dann auch mal an ihren Kontext zu binden und zu fragen, ob sie denn was Neues böten, ist stark. Wenn man nämlich annimmt, dass Begriffe tatsächlich auch soziale Realität sind, wie das Staats-Beispiel ja suggeriert, dann geht es bei begrifflicher Innovation ja nicht nur um neue Ideen, sondern darum, anders zu Denken und zu Leben. Vor diesem Hintergrund macht es dann ja auch wieder Sinn, dass sowohl Nietzsche als auch Lenin hier auf je eigene Weise Gedanken zu Geuss‘ Kritik beitragen.
Bin wie gehabt gespannt auf die weitere Lektüre!