Der aktuelle Lesekreis der AG Politische Theorie zum Werk von Claude Lefort hat bereits einige Diskussionspunkte und Fragen aufgeworfen. Mit ‚Die Frage der Demokratie’ kommen wir nun zu einem weitaus prägnanteren und darüber hinaus oft zitierten Beitrag des französischen Philosophen. Eingangs möchte ich kurz auf den Methodenaspekt eingehen, der von Stefan bereits in der letzten Diskussion eingebracht wurde. Denn das unablässige Argumentieren Leforts gegen bestimmte Konzepte, welche dann als Negativfolien zur Entwicklung der eigenen Argumentation dienen, kann in diesem Fall zur Strukturierung des Textes herangezogen werden. Dabei zeigt sich eine gewisse Nähe zu den Arbeiten von Chantal Mouffe, die sich wiederum bereits in ihrem Hauptwerk auf Lefort bezogen hatte (Laclau/Mouffe 1991: 231f). Leforts – etwas großspurig klingendes – Anliegen einer „Wiederherstellung der politischen Philosophie“ (Lefort 1990b: 281) verfährt demnach in fünf Schritten, die im folgenden nachvollzogen werden.
Zu Beginn positioniert sich Lefort erneut gegen linke Intellektuelle und Philosophen seiner Zeit, die sich durch ihre „Weigerung, die Freiheit in der als ‚bürgerlich’ definierten Demokratie, […] zu entdecken“ (ebd.: 283) von der politischen Philosophie entfernen. Mit dieser Weigerung werde der Freiheitsbegriff aus dem wissenschaftlichen Diskurs in den Bereich der bloßen Meinungsverschiedenheiten verdrängt. Allerdings sollte der Begriff im Kontext westlicher Gesellschaften gedacht werden, um das Politische eben jener zu verstehen. Politische Freiheit wird somit zum zentralen Begriff in Leforts Konzept des Politischen.
Im nächsten Schritt wendet sich Lefort gegen geläufige Standpunkte der Politikwissenschaft wie der Wissenschaft im Allgemeinen. Die Politikwissenschaft begreife ihren Erkenntnisgegenstand zwar richtig als eine „Sphäre von Institutionen, Beziehungen und Tätigkeiten“ (ebd.: 283f), die von den Sphären des Rechts und der Wirtschaft zu trennen sei. Für diese Abgrenzung ist jedoch der Bezug auf die Ebene des Sozialen notwendig, der von der Politikwissenschaft nicht ausreichend reflektiert wird. Denn mit Lefort besteht das Politische nicht im politischen Handeln per se, „sondern in der doppelten Bewegung des Erscheinens und Verbergens der Art und Weise, wie sich Gesellschaft instituiert“ (ebd.: 284). Diese Bewegung geht mit der Ausdifferenzierung der politischen Sphäre als Ort der Politik einher. Jene Institution der Gesellschaft, die ohne das Politische nicht erhalten bliebe, wird mit der Formgebung umschrieben. Die Formgebung ist „Sinngebung (mise en sene) und zugleich eine Inszenierung (mise en scène)“ (ebd.: 284, Hervorh. im Orig.): Soziale Entitäten und Beziehungen erhalten Sinn über Unterscheidungen (bspw. wahr/falsch, gerecht/ungerecht) und werden in der jeweiligen Verfassung des politischen Systems quasi-repräsentiert. Die Ebene des Sozialen wird somit erst über die Institutionalisierung des Politischen an einem Ort der Politik erkennbar, was im letzten Beitrag unter dem Stichwort ‚Macht als instituierende Instanz des gesellschaftlichen Raumes’ besprochen wurde (vgl. Lefort/Gauchet 1990: 97).
Mit diesem Vorwurf an die Politikwissenschaft verbindet Lefort – im Anschluss an die allgemeinere Kritik am positivistischen Objektivismus der Wissenschaften – eine Kritik an der Fiktion eines neutralen Subjekts. Deren Folge sei die Unmöglichkeit „eine Erfahrung zu denken, deren Entstehung und Struktur mit einer impliziten Konzeption von den Beziehungen der Menschen untereinander und zur Welt in Verbindung steht“ (Lefort 1990b: 285). Auswirkungen von Machtverhältnissen auf erkenntnisleitende Unterscheidungen seitens des Subjekts sowie auf jeweils dominierende Interpretationen gesellschaftlicher Phänomene werden damit ausgeklammert.
Um der Frage nachzugehen, wie das Politische nun zu denken sei, widmet sich Lefort im folgenden Schritt erneut der Gefahr einer Mutation des demokratischen Modells in eine totalitaristische Herrschaftsordnung (vgl. Lefort 1990a: 47). So wird der Totalitarismus insbesondere durch die Verquickung der „Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens“ (ebd.: 287) definiert, was die gesellschaftliche Teilung negiert. Für die Demokratie bleibt also die Unabschließbarkeit des Sozialen essentiell. In Anlehnung an den letzten Schritt: Die wissenschaftliche Betrachtung darf sich nicht allein auf die Analyse von Institutionen beschränken, sondern muss die Demokratie – und in ihr die ambivalente Verfahrensweise des Politischen – stets im Zusammenhang mit der Ebene des Sozialen sehen. Demokratie erscheint somit als „eine bestimmte Gesellschaftsform“ (ebd.: 288) deren Spezifikum verstanden werden muss, um sie vom Totalitarismus abzugrenzen und bewahren zu können.
Dieses Spezifikum arbeitet Lefort mit dem Ansatz von Alexis de Tocqueville aus. Tocqueville habe die Ebenen der Politik und des Sozialen stets in ihrem Verhältnis betrachtet und daher auch die widersprüchliche Zweideutigkeit der demokratischen Revolution erkannt. Jene Zweideutigkeit identifiziert Lefort bei Tocqueville auf vier Ebenen: Individuum, Meinung, Recht und Macht. Die mit der Demokratie gewonnen Freiheiten drohen sich auf jeder dieser vier Ebenen in ihr Gegenteil zu verkehren, da der Gründungsakt der demokratischen Ordnung über Zeit verblasst; bspw. steht der positiven Handlungsfreiheit des Subjekts die isolierende Tendenz des Individualismus gegenüber.
Für Lefort vergisst Tocqueville allerdings die Reaktionen auf derartige Tendenzen, d.h. jene Gegenbewegungen, die weiterhin Forderungen geltend machen und für ihre Rechte kämpfen. Anstatt am negativen Pol der demokratischen Entwicklung stehen zu bleiben, sei offenbar, dass „die Heterogenität des gesellschaftlichen Lebens gleichsam als Kehrseite der Beherrschung des Individuums durch Staat und Gesellschaft [wächst]“ (ebd.: 291). Indem die Ambivalenz des Politischen mit dem „beständigen Wettstreit“ (Lefort/Gauchet 1990: 105) der Forderungen bestehen bleibt, nimmt die Demokratie die Unbestimmtheit in ihre Form auf und wird somit zur „geschichtliche[n] Gesellschaft schlechthin“ (Lefort 1990b: 291).
Als letzte Negativfolie dient Lefort die Monarchie. Anders als in der Monarchie wird der Ort der Macht in der Demokratie nicht mehr von einem Fürsten verkörpert, der die transzendente Ordnung repräsentierte. Stattdessen ist „[d]ie Machtausübung […] nun einem Verfahren unterworfen, das sie in regelmäßigen Abständen erneut ins Spiel bringt“ (ebd.: 293). Der Ort der Macht bleibt leer und als solcher undarstellbar, weil er nicht von einem Individuum oder eine Gruppe verkörpert werden kann.
Und das ist wiederum Voraussetzung für die Spaltung der Sphären von Macht, Recht und Wissen ist (vgl. ebd.). Die Autonomie des Rechts wie des Wissens ist an die Abwesenheit eines transzendental fundierten Wesensgehaltes gebunden. Lefort greift diese Entwicklung mit Marx: „In der gesamten Sphäre des Gesellschaftlichen ist eine Dialektik der Exterritorialisierung jeder einzelnen Handlungssphäre im Gange“ (ebd.: 294). Jedoch versteht Lefort diese Exterritorialisierung nicht als Entfremdung. Sie folgt für ihn aus „einer neuen symbolischen Konstituierung des Gesellschaftlichen“ (ebd.), welche den politischen Wettstreit an die Konflikte auf der Ebene des Sozialen bindet. Die Parteien dieser Konflikte sind stets auf Identitäten, wie das Volk, Nation oder Staat, bezogen, aber nicht vollständig durch diese repräsentiert. So bleibt die demokratische Gesellschaft eine körperlose Gesellschaft, weil die „Grundlagen aller Gewissheit“ (ebd.: 296, Hervorh. im Orig.) in der Gründung der Demokratie verschwinden. Mit der Demokratie beginnt stattdessen eine unbestimmte Geschichte, welche die Bevölkerung auf die Unmöglichkeit einer Letztbegründung verweist. Die daraus entstehende Unsicherheit führt für Lefort zur Möglichkeit des Totalitarismus, der mithilfe einer substantiellen Fiktion aus der Demokratie hervorgehen kann: Nämlich dann, wenn die Macht „innerhalb der Gesellschaft auftritt, während diese sich im gleichen Zuge als zerrissen offenbart“ (ebd.).
Leider bleiben auch nach der Lektüre von ‚Die Frage der Demokratie’ einige Punkte offen, die bereits angesprochen wurden. Lefort geht weder auf die Rolle des Imaginären, seinen Subjektbegriff oder konkreter auf diejenigen ein, die er kritisiert. Im Gegenzug wurde deutlicher, was die Begriffe ‚Leerstelle der Macht’ und ‚Verteilung’ bedeuten, und die Nähe zu weiteren postmarxistischen Ansätzen, bspw. von Laclau & Mouffe und Rancieré, konnte illustriert werden. Überzeugend wurde allerdings dargelegt, warum die gerade Demokratie die Voraussetzungen für totalitäre Institutionen bereitstellt und unter welchen Umständen es zur Herausbildung einer solchen Herrschaftsordung kommt. Die Frage der Demokratie scheint demnach diejenige zu sein, wie sie als solche vor einer Schließung im Sinne des Totaliarismus bewahrt werden kann.
Literatur
Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 3. Auflage. Wien: Passagen.
Lefort, Claude (1990a): Vorwort zu Eléments d‘une critique de la bureaucratie. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 30-53.
Lefort, Claude (1990b): Die Frage der Demokratie. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 281-297.
Lefort, Claude (1990): Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 89-123.
Danke für den Beitrag, Daniel! Ich fand auch diesen Text wieder sehr dicht – deine Zusammenfassung war sehr hilfreich.
Weißt du eventuell, wie Lefort zwischen dem Sozialen und dem Politischen differenziert? Gerade weil er der Politikwissenschaft vorwirft nicht genug das Soziale zu reflektieren, erscheint mir dies nicht ganz unwichtig.
Zudem ist mir noch nicht ganz klar, ob er genauere Kriterien für ‚funktionierende‘ Demokratien bzw. graduelle Unterschiede irgendwo festmacht – denn offensichtlich ist die Demokratie die politische Gesellschaftsform, die Freiheit gewährt, gleichzeitig aber auch die Gefahr des Totalitarismus birgt. Doch welche Kriterien müssen eingehalten werden, damit die Demokratie auch unabgeschlossen bleibt. Denn schaut man sich die Realität an, ist ja jede Gesellschaft immer der Gefahr der abschließenden Identitätsbildung ausgesetzt – an Nationalismen, Ursprungsmythen etc. wird dies in der Tagespolitik ständig sichtbar.
Nur eine Frage zu deinem Kommentar: Ist die Gefahr des Abrutschens in den Totalitarismus, wie auch immer dieser gesellschaftliche Systemzustand definiert werden soll, nicht für jede politische Ordnung vorhanden – egal ob sie mehr oder weniger den Kriterien einer Demokratie entspricht?
Ich würde außerdem die generalisierende Aussage bestreiten, dass die Demokratie die politische Gesellschaftsform ist, die Freiheit gewährt – es sei denn mit Demokratie ist nicht ein empirisch vorfindbares Modell, sondern eine theoretisch denkbare Utopie gemeint. Ich glaube, Demokratie gewährt sowohl bestimmte Freiheiten als auch (rechtlich legitimierte) Einschränkungen von Freiheiten.
@Stefan: Lefort stellt tatsächlich eine gewisse ‚Gleichursprünglichkeitsthese‘ auf, wenn er über die Nähe von Demokratie und Totalitarismus schreibt. Er bezieht sich dabei auf die modernen Demokratien. Mit der Dekapitation der Monarchen und damit der Auflösung der transzendenten Legitimation der Macht kann es keine nicht-immanenten Formen der Begründung der Herrschaft mehr geben. Erst jetzt ist eine politische Ideologie denkbar, die den Anspruch erhebt Gesellschaft zu formen, denn die Vormoderne ist (aus „moderner“ Perspektive und nicht im ontologischen Sinne) für Lefort als eine mit sich selbst identische Gesellschaft verstehbar. In dieser kann weder die demokratische Frage gestellt werden, noch sind die gesellschaftlichen Teilungen als Grundbedingung der Demokratie offenbar.