Lefort: Vorwort zu Eléments d‘une critique de la bureaucratie

Dieser Lesekreis der AG Politische Theorie befasst sich in den nächsten Monaten mit Arbeiten des französischen Philosophen Claude Lefort (1924-2010),[1] die er in den 1960/70er-Jahren zur Demokratie und ihrem Verhältnis zum Totalitarismus in Verbindung mit einer Bürokratiekritik formulierte. Der erste und hieElements dune critique de la bureaucratie_Lefortr behandelte Text ist das Vorwort zu Eléments d‘une critique de la bureaucratie – einer Zusammenstellung von Texten, die 1971 zum ersten Mal erschien und 1979 in einer überarbeiteten Zusammenstellung aktualisiert wurde.

Lefort verdeutlicht zu Beginn des Textes das allgemeine politische Klima – den ‚Druck des ideologischen Terrors‘ und die ‚Denkverbote des Marxismus-Leninismus‘ –, in dem seine Texte entstanden sind und welches ihn schwer belastet hat (vgl. Lefort 1990: 31). Durch Leforts eigene (z. T. auch kritische) Reflexion seines Werdegangs sowie die Begründung der Neuzusammenstellung dieses Bandes bietet der Text einen guten Überblick zur Verortung und Entwicklung seines Werkes, bleibt jedoch in seiner ausgiebig geübten Kritik an diversen Gruppen gerade für Neueinsteiger diffus, die teilweise wie ein weit ausgeholter Rundumschlag wirkt.

Lefort scheint es ein Anliegen zu sein, sein eigenes Verhältnis zu Marx zu verdeutlichen, den er zeitlebens gelesen, zitiert und interpretiert hat; ihm jedoch auch in gewissen Punkten widerspricht – so beispielsweise der Verharrung im starren Klassendenken oder der Vorstellung einer unmittelbar bevorstehenden vollendeten Vergesellschaftung, die am Mythos einer Ungeteiltheit und Homogenität festhält und damit die verheerenden Folgen des Totalitarismus in sich trägt (vgl. Lefort 1990: 34). Lefort erkennt eine bei Marx angelegte Zweideutigkeit und versucht immer wieder, gegen marxistische Strömungen mit Marx zu argumentieren und sich seine Freiheit der eigenen Interpretation zu erkämpfen. Nach mehreren Brüchen mit verschiedenen Institutionen wie der IV. Internationalen oder der Gruppe Socialisme ou Barbarie versteht sich Lefort jedoch nicht mehr als Marxist, auch wenn er weiterhin Marx liest. Er stellt sich vehement gegen alles, was zum Aufbau einer Partei zu tendieren scheint und bezeichnet in diesem Vorwort das Warten auf die Revolution als vergebene Mühe; und den Glauben an eine gute Gesellschaft entweder als naiv, als heuchlerisch oder gar als furchterregend (vgl. Lefort 1990: 32, 36). Die Zerstörung dieser Illusion, das formulieren einer Bürokratiekritik und den Einsatz für eine libertäre Demokratie stellt Lefort daraufhin ins Zentrum seiner Arbeit. Da der Text im Sinne eines Vorwortes viele verschiedene Themen und Debatten aufgreift, möchte ich hier eine mir zentral erscheinende Serie Monarchie – Demokratie – Totalitarismus betrachten, an die weitere Aspekte in der Diskussion angeschlossen werden können.

Zentraler Ansatzpunkt ist dabei der historische Übergang von der Monarchie zur Demokratie durch die Französische Revolution und die daraus resultierende totalitäre Tendenz, die grundlegend in der Demokratie angelegt ist. In der traditionellen Welt ist die allgemeine Ordnung durch die Religion und die Monarchie abgesichert; Macht, Recht und Wissen stellen Fixpunkte dar; und die Menschen sind in Kategorien und Hierarchien eingegliedert. Da die Gesellschaft dem Modell eines Körpers nachgebildet und in einer natürlichen Ordnung verankert ist, bleibt die interne Teilung verborgen. Mit der Französischen Revolution kommt es zu einer völligen Umwälzung der Gesellschaft: Die Aufhebung der Monarchie und die Zerstörung der göttlichen Ordnung lösen die bis anhin geltenden Begründungsmuster der Gesellschaft auf und eröffnen ein Projekt zur objektiven Erkenntnis der gesellschaftlichen Realität sowie der rationalen Beherrschung der Geschichte. Die Teilung der Gesellschaft wurde bisher von der natürlichen Ordnung verdeckt und tritt nun als gesellschaftliche in Erscheinung: Und „so entfaltet sich [auch] die Ungleichheit im Horizont der Gleichheit; die Macht geht aus der Gesellschaft hervor und soll ihr zugleich die Bedingungen ihrer Einheit liefern; das Recht erweist sich als dem wechselhaften Willen der Menschen unterworfen; die Erkenntnis in ihren vielfältigen Ausformungen bleibt selbst in der Tätigkeit des Erkennens immer auf der Suche nach ihren Grundlagen: letztlich eröffnet sich eine unbestimmte Fahrt ins Neue“ (Lefort 1990: 35).

Damit einhergehend entsteht ein Phantasma zur Aufhebung jeder gesellschaftlichen Teilung durch die Vorstellung eines tatsächlich homogenen Raumes mit einem Überblick des Wissens und der Macht sowie eines allmächtigen Staates „als unpersönliche Vormundschaftsinstanz“ (Lefort 1990: 48). Zudem „taucht die Figur des Volkes auf, erst undeutlich, aber bereit, sich zu aktualisieren, so daß diese Gestalt, die stets untergründig den Garanten der Souveränität darstellt, nun die Drohung einer rasenden Behauptung ihrer Identität in sich birgt“ (Lefort 1990: 48). Der Totalitarismus bezeichnet dabei eine politische Mutation des demokratischen Modells, denn erst durch die Demokratie wird die Teilung als gesellschaftliche sichtbar, die der Totalitarismus wiederum aufzulösen verspricht (vgl. Lefort 1990: 47-48).

Lefort macht an diese Ausführungen anschließend zwei Entwicklungstendenzen der Demokratie aus, die beide in ihr angelegt und nicht voneinander zu trennen, geschweige denn aufzulösen sind: zum einen das totalitäre Phantasma einer totalen Beherrschung des gesellschaftlichen Raumes – einhergehend mit allwissender Macht und Wissen –, zum anderen ein Gesellschaftsverständnis, in dem Macht, Recht und Wissen stets ungewiss bleiben, wobei die daran anschließenden gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten mit einem Freiheitsversprechen verbunden sind (vgl. Lefort 1990: 50-51).

Aufgrund dieser Paradoxie rückt Lefort die Untersuchung der Demokratie in den Fokus, um für die darin angelegten Gefahren zu sensibilisieren und insbesondere auf die Illusion des Einheitsversprechens hinzuweisen. Er will die Ideen der Freiheit und der gesellschaftlichen Kreativität im Rahmen einer Demokratietheorie neu denken, ohne die Teilung, den Konflikt und das Unbekannte der Geschichte zu leugnen. Dabei will er eine Rehabilitierung der bürgerlichen Ideologien vermeiden, denn diese versuchen ebenso, den Zusammenhang zwischen Demokratie und gesellschaftlicher Teilung zu verbergen. Denn so fällt die Demokratie zwar mit dem Aufstieg des Bürgertums zusammen; das Bürgertum bekämpfte jedoch die Demokratie zu Beginn noch, bevor es sich mit ihr arrangierte, dabei aber ständig versuchte, sie zu zähmen und ihre Auswirkungen zu entschärfen. Dabei versteht Lefort die Demokratie nicht als eine bestimmten Regierungsform – d. h. als „Komplex geschichtlich determinierter Institutionen, derer sich eine Klasse zugunsten der Herrschaft über die anderen bedient“ (Lefort 1990: 34) – sondern als „jenes Spiel der Möglichkeiten, das in einer noch nicht so fernen Vergangenheit eröffnet wurde“ (Lefort 1990: 52) und jenseits dessen nur das Modell des Totalitarismus zu finden sei. Gleichzeitig weist er ein ‚sich-zufriedenes-Zurücklehnen‘ hinsichtlich der Wohltaten der heutigen Herrschaftsordnung zurück. Es ist und bleibt für ihn eine politische Frage, denn ein Wunsch nach Freiheit, der in der Demokratie angelegt ist, geht für ihn immer mit einem Wunsch nach Gesellschaft einher, die diese Ambivalenzen in sich trägt.

 

Anschließend an diesen historischen Ausgangspunkt von Leforts Betrachtungen ergeben sich für die  weitere Diskussion des Textes verschiedene Themen und Fragen:

  • Die generelle Einordnung Leforts und die Unterteilung seines Schaffens in verschiedene Phasen; sowie sein Verhältnis zu seinen Kritiker*innen und die Diskussion zentraler Argumente, die Lefort diesbezüglich anführt.
  • Die Ausarbeitung zentraler Begriffe, die Lefort in diesem Text anspricht – wenn teilweise auch sehr knapp – wie derjenigen der ‚Verfassung‘, der ‚Leerstelle der Macht‘ oder sein konkretes Verständnis von Demokratie. Auch die ‚Erfahrung der Anderen‘ (Lefort 1990: 51), scheint ein charakteristisches Merkmal der Demokratie zu sein, das hier jedoch noch diffus bleibt.
  • Die Ausarbeitung der Rolle der Bürokratie im Totalitarismus und welche Form der Kritik Lefort daran übt. Und daran anschließend:
  • Sein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Stärkung staatlicher Institutionen (Lefort 1990: 45) – unter Berücksichtigung der realpolitischen Konsequenzen, die dies für die Ausgestaltung einer demokratischen Gesellschaft hätte; und was Lefort unter einer libertären Demokratie versteht.
  • Auch die ausschließliche Zuordnung des Totalitarismus zur modernen Welt scheint mir diskussionswürdig. Denn Lefort argumentiert, dass erst durch die Auflösung der natürlichen Ordnung der traditionellen Welt – und die dadurch sichtbar werdende gesellschaftliche Teilung – Totalitarismus möglich wird. Doch gibt es nicht auch Beispiele für Versuche von gesamtgesellschaftlichen Zugriffen von Seiten der Regierenden in der traditionellen Gesellschaft – sei dies durch Volkszählungen, das allgemeine Festlegen von Abgaben oder Frondiensten, den Einzug zum Militärdienst oder etwa die Verbreitung und Durchsetzung von (Staats-)Religionen? Kann dem Totalitarismus eine grundlegend andere Qualität in der Praxis zugeschrieben werden, der ihn von Zugriffen in traditionellen Gesellschaften unterscheidet? Oder liegt der Unterschied lediglich in der Begründung: Kontrolle der Individuen aufgrund ‚natürlicher Hierarchien‘ bzw. aufgrund eines ‚Einheitsversprechens‘?

 

Literatur

Lefort, Claude, 1990: Vorwort zu Eléments d‘une critique de la bureaucratie, in: Ulrich Rödel (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 30-53.

 

[1] Und zwei Beiträgen von Marcel Gauchet.

Veröffentlicht von

Clelia Minnetian

Clelia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theorie und Allgemeine Soziologie an der Universität Bielefeld. Sie forscht im DFG-Projekt 'Zur Institutionalisierung der Rankings. Diskurskarrieren tabellarischer Leistungsvergleiche zwischen 1850 und 1980' und promoviert im Rahmen des Graduiertenkollegs 'Innovationsgesellschaft heute' an der TU Berlin zu gouvernementalen Technologien der staatlichen Berufsorientierung mit Blick auf Prozesse der Subjektivierung. Weitere Interessenschwerpunkte liegen auf der Politischen Theorie – insbesondere im Bereich des Poststrukturalismus und der Diskurstheorie.

4 Gedanken zu „Lefort: Vorwort zu Eléments d‘une critique de la bureaucratie“

  1. Vielen Dank für diesen anregenden Einstieg in den Lesekreis! Wie du bereits geschrieben hast: Es werden viele Topoi der politischen Philosophie Leforts angeschnitten – und einiges davon verbleit noch reichlich dunkel. Gerade Leforts Kritik an den Linksintellektuellen seiner Zeit, deren Namen und Handlungen er kaum benennt, ist wohl nur mit einigem Vorwissen oder aus einer zeitgenössischen Position heraus verständlich.
    Lefort erweist sich in diesem Text dennoch als das, was er auch später immer gewesen ist: Ein nicht nur streitbarer Denker, sondern vor allem ein zerstrittener Denker. Seinen kontinuierlichen Dissens mit Gruppen, denen er einst angehörte, würde ich dazu genauso zählen wie das sehr, sehr späte Eingeständnis einer gewissen Nähe zum Denken Hannah Arendts (auch von ihr distanziert er sich an einigen Stellen). So scheint in dem hier diskutierten Text nicht nur der Bruch mit der marxistischen Tradition durch, sondern auch das Ego eines Philosophen, der vorleben wollte, worüber er schrieb: den politischen Konflikt.

    Ich möchte vor allem auf den letzten von dir genannten Diskussionspunkt eingehen, da er ein ganz zentrales Motiv der Philosophie Leforts berührt, dem wir auch in den nächsten Texten regelmäßig begegnen werden:
    Mit Lefort würde ich vermuten, dass der Bruch zwischen der totalitären Herrschaft und den ihr vorhergehenden, ebenso undemokratischen Formen der Regierung in der Begründung und in der Praxis liegt. Das Offenbarwerden der gesellschaftlichen Teilungen (‚Pluralismus‘) ist keine ontologische Aussage, sprich: An ‚der Gesellschaft‘ ändert sich durch die Revolution ersteinmal wenig. Dennoch ist nun offensichtlich, dass es keine durch einen sakral legitimierten Körper der Monarchie begründete Einheit der Gesellschaft geben kann. Das totalitäre Entgleisen der Politik bezieht sich daher in der Moderne zuallererst auf die Einheitsfiktion der Gesellschaft, sprich auf den Umgang mit einer unhintergehbaren Pluralität. Das Lefort’sche Verständnis des Totalitarismus, links wie rechts, beschreibt eine Praxis der Machtausübung, die die gesellschaftlichen Teilungen negiert und daher in der ‚Erfahrung der Anderen‘ zu repressiven Mitteln greift. Totalitarismus als Praxis des Politischen, der Macht bzw. des Regierens beruht auf der für Lefort kontrafaktischen Annahme einer in Identität zu sich selber positionierbaren Gesellschaft. Gerade deswegen kennt die totalitäre Praxis auch kein ‚Ende‘, da sie sich vielmehr in der beständigen Ausübung der Einheitsherstellung als in dem konstitutiv unmöglichen Erreichen dieses Zieles äußert. Die vormodernen Formen der Repression hingegen waren, so würde ich Lefort lesen, gegen individuelle Abweichungen von der Norm einer sich selbst als Einheit verstehenden Gesellschaft gerichtet – der Zugriff auf die Bevölkerung durch die von dir genannten Maßnahmen des Regierens hat daher in der Moderne sowohl in der Begründung als auch in der Praxis einen anderen Charakter.
    Um das Verständnis hiervon zu vertiefen, ist es sicherlich hilfreich im Laufe des Lesekreises den Begriff der Moderne Leforts präziser zu rekonstruieren und die phänomenologisch begründeten Motive seiner Totalitarismuskritik zu explizieren – in den je einzelnen Texten werden sich dazu Anhaltspunkte ergeben. Auch die Kritik an der Bürokratie und an den staatlichen Institutionen, auf die du eingegangen bist, wird vielleicht verständlicher, wenn wir uns den Begriff des Politischen bei Lefort einmal genauer ansehen – ein zentraler Bestandteil des nächsten Beitrags im Lesekreis.

    Für mich bleibt abschließend vor allem offen, welchen Status Lefort dem Begriff des Volkes zumisst. Auf Seite 48 des diskutierten Textes, die Stelle findet sich oben zitiert, zeichnet er in sehr groben Strichen das Entstehen einer Volkssouveränität nach und verbleibt unklar darüber, ob die ‘untergründige’ Garantie der Souveränität und die ‘Drohung einer rasenden Behauptung ihrer Identität’ nun wieder zwei Seiten ein und der selben (Moderne-)Medaille sind oder ob er das Volk viel mehr als etwas nicht mit der Gesellschaft, dem demos oder der Nation Identisches denkt. Welchen Platz nimmt das Volk in seinem Denken ein? Beschreibt es denjenigen Teil der Gesellschaft, den der Totalitarismus als Referenz wählt oder ist es der essayistische Stil Leforts, der hier zu Uneindeutigkeiten führt?

  2. Auch ich kann mich dem Dank an den Einführungsbeitrag von CM nur anschließen. Alles, was mir in diesem Text von Lefort aufgefallen ist, hast du erwähnt. Mir sind für die Wiedergabe meines Leseeindrucks zwei Bemerkungen zunächst wichtig:
    1) „[…] bleibt jedoch in seiner ausgiebig geübten Kritik an diversen Gruppen gerade für Neueinsteiger diffus, die teilweise wie ein weit ausgeholter Rundumschlag wirkt“, hast du anfangs geschrieben. Auch ich habe den Eindruck, dass Lefort sich in seiner Kritik an seine ideologischen Gegner zwischen alle Stühle setzt. Seine eigene politisch-ideologische Position bleibt äußerst vage. Nach der Lektüre weiß ich nur eins: Marxist oder Sozialist (wie ich einen definieren würde) ist er nicht. Ihm geht es um eine libertäre Demokratie (vgl. S. 38), die er erforschen will. Dabei grenzt er diese von Träumen an den Kommunismus ab, als seien libertäre Demokratie und Kommunismus zwangsläufig Gegensätze bzw. Unvereinbares. Marx hat Kommunismus gewiss nicht exakt definiert, doch nach meiner Kenntnis würde sich sein Kommunismusverständnis durchaus mit einer libertären Demokratie vertragen. Allerdings müsste man Leforts Verständnis dieser Begriffe erst kennen, bevor man dieses Argument geneauer bewerten könnte. Seltsam und unverständlich ist mir, dass Lefort alles Nicht-Demokratische zu totalitären Erscheinungen erklärt (vgl. S. 52): „Jenseits ihrer Grenzen aber gibt es nur das Modell des Totalitarismus.“ Das ist mir etwas zu undifferenziert schwarz-weiß-gedacht. Mir scheint es so, dass Lefort zu dieser Annahme (Gegensatz von Demokratie und Kommunismus) aufgrund seines totalitarismustheoretischen Ansatzes kommt, der Kommunismus mit der praktizierten Politik in Stalins Sowjetunion gleichsetzt.
    2) Das führt mich zu meiner zweiten Bemerkung. Nun gehöre ich zur wohl kleinen Gruppe von überzeugten marxistischen Sozialisten; aber selbst wenn ich kein Marxist wäre, würde mir der Ton bzw. Stil, mit der Lefort seine Kritik am Sozialismus, besonders am Sowjetsozialismus vorträgt sehr missfallen. Lefort bestärkt mich mit seinen totalitarismuskritischen Ausführungen in meiner Ablehnung der Totalitarismustheorie. Er arbeitet sich in wütendem Stil am Ostsozialismus ab (Zitat S. 45: „[…] den sozialistischen Herrschaftssystem den Prozeß zu machen“, 52: Monströsität des totalitären Systems“). Ich habe nichts an Kritik am Ostsozialismus oder Sozialismus im Allgemeinen einzuwenden, doch wenn berechtigte Kritik an Gulags und Unrecht im praktizierten Ostsozialismus genutzt wird, um die Idee/Theorie des Sozialismus (wie sie z. B. Marx entworfen hat) völlig zu diskreditieren, dann ist das unwissenschaftlich und unsachlich.
    Seine Bürokratiekritik überzeugt bisher wenig; mir ist nicht klar, wie eine libertäre Demokratie ohne jegliche Institutionen (Partei, Verwaltung) funktionieren soll. Da bin ich gespannt, was Lefort dazu noch ausführen wird. Mich würde auch interessieren, ob er sich zu Bürokratie im Kapitalismus äußert, denn CM nennt in ihrer abschließenden Aufzählung nur ein Interesse an der „Ausarbeitung der Rolle der Bürokratie im Totalitarismus und welche Form der Kritik Lefort daran übt“. Bürokratie ist aber nun kein Alleinstellungsmerkmal des Totalitarismus (oder fällt „unser“ Kapitalismus auch unter sein Totalitarismusverständnis?).
    Dass er den Glauben an eine gute Gesellschaft entweder als naiv, als heuchlerisch oder gar als furchterregend betrachtet, finde ich wiederum eine furchterregende Nüchternheit und Utopiefeindlichkeit. Einfach gesagt, wie sollen jemals gesellschaftliche Fortschritte erreicht werden, wenn eine große Mehrheit der Menschen nicht einen wie auch immer gearteten Glauben an eine bessere (nicht unbedingt sozialistische) Gesellschaft in sich trügen? Wären heutige Errungenschaften wie Sozialstaat, (pro forma-)Freiheitsrechte oder parlamentarische Demokratie ohne einen solchen Glauben von unseren Altvorderen erkämpft worden?? Allein mit Vernunft oder rationalen Diskursen wird es progressive Sprünge in der Geschichte m. E. nicht geben, denn auch für moderne Menschen hat (religiöser oder Aber-)Glaube immer noch eine enorme Bedeutung – leider.
    Mein erster Eindruck von Lefort ist, dass ich seine Theorie aber auch seine Argumentationsweise falsh, unsympathisch und realitätsfremd finde. Vielleicht können die anderen Aufsätze dieses Bild korrigieren.

  3. Da meine Lesart Leforts wohl doch eher eine sympathisierende ist (wenn auch nicht bedingungslos), muss mich dein Vorwurf des „Falschen, Unsympathischen und Realitätsfremden“ doch etwas verwundern – oder zu einer Antwort motivieren.
    Was bei bei dem diskutierten Text nicht vergessen dürfen, ist der Entstehungskontext und sein Alter. Lefort hat später durchaus über den Kapitalismus geschrieben und den Mangel eines politischen Projektes beklagt, welches im Stande ist, dessen ‚wilden Dynamiken‘ adäquat zu begegnen. Diese Texte sind leider nicht ins Deutsche übersetzt – ein angekündigter Sammelband scheint sich immer weiter zu verschieben.
    Die Ausarbeitung einer Theorie des Politischen auf Grundlage marxistischer Theoreme zählte nie zu Leforts Anliegen – ihr werdet daher sicher keine Freunde! Vielmehr hat er sich auf das phänomenologische Denken gestützt und ist hier seinem Lehrer Merleau-Ponty gefolgt. Sein Verständnis von Demokratie nimmt in den Folgetexten noch mehr Kontur an als in dem Auftakt des Lesekreises, auch die Zusammenarbeit mit Gauchet hat hier sicher zu einigen Klarstellungen geführt, die Lefort in dem Text aus den 70er Jahren schuldig bleibt. Den Tonfall, den du mokierst, weist er übrigens selber als dem Diskurs mit den Marxisten im Frankreich der Nachkriegszeit entsprechend aus – spiegelt damit also den Stil, mit dem man ihm auf Grund seiner sicher manchmal sehr direkten Kritik begegnete.
    Nun zu den von dir genannten inhaltlichen Punkten: Wer, wie Lefort, von einer unhintergehbaren Konflikthaftigkeit des Sozialen ausgeht und auf diesem Wege die Notwendigkeit einer radikalen Demokratie begründet, der wird für die Repressivität so manchen utopischen Denkens ganz gut sensibilisiert. Der Schritt in die Moderne, bei Lefort konträr zur soziologischen Differenzierungstheorie als politische Moderne gelesen, impliziert eine Differenzierung von Recht, Macht, Wissen und vor allem von der Politik und dem Politischen (wie genau er welchen Problemen begegnet: Auch hier verweise ich auf spätere Texte des Lesekreises). Auf theoretischer Ebene Allgemeingültigkeit zu beanspruchen wäre demnach wohl ein performativer Selbstwiderspruch einer wissenschaftlichen Position. Lefort erkennt aber durchaus an, dass partikulare politische Momente sich mit einem Universalisierungsanspruch artikulieren und delegitimiert dies nicht generell. Vielmehr macht er darauf aufmerksam, dass Vertreter_innen politischer Ideologien vor dem Horizont einer libertären Demokratie genau dann ihre Legitimität in der Beschreibung oder Einforderung soziopolitischen Wandels einbüßen, wenn sie die Notwendigkeit verkennen in einen politischen Konflikt zwischen Gleichen einzutreten und dort für ihr Anliegen zu kämpfen. Als Theoretiker beschreibt Lefort dies gewissermaßen als ‚aussichtslos‘, er erkennt die Pluralität und Heterogenität moderner Gesellschaften an. Er verlangt jedoch nicht, dass politische Akteure sich durch Selbstreflexion ihrer Partikularität und damit sämtlicher Idealvorstellungen der Gesellschaft entledigen müssten.
    Der Hinweis darauf, dass der Anspruch die Gesellschaft zu formen nur in konsequenter Missachtung der Bedingungen der politischen Moderne aufrechterhalten werden kann scheint mir ein – an dieser Stelle nicht in die Höhen theoretischer Abstraktion erhobener – guter Verweis auf den Ausgangspunkt einer Reflexion des Politischen in der Demokratie. Offenbar reicht dies für eine Konfrontation radikaldemokratischen und phänomenologischen Denkens und der politischen Theorie des Marxismus noch heute aus.

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