Der zweite Teil des Lesekreises widmet sich dem Text „Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen“ von Lefort/Gauchet (der Text gründet auf Vorlesungen Leforts, die von Gauchet bearbeitet wurden).
Einige Elemente und aufgeworfene Fragen aus dem ersten Beitrag können hier wieder aufgegriffen und vielleicht sogar weiter erhellt werden: Zum einen setzt sich der Autor auch in diesem Text wieder mit marxistischen Ansätzen auseinander, weißt diese zur Analyse der Demokratie von sich (89), verwendet jedoch gleichzeitig Grundbegriffe der Denkschule für seine Analyse. Als weiterer zentraler Punkt der letzten Woche findet sich die Illusion gesellschaftlicher Einheit wieder. Außerdem wird stellenweise auch die Abgrenzung von Demokratie und Totalitarismus erwähnt (104, 111), auch wenn sich das demokratische System klar im Fokus befindet.
Des Weiteren treten neue, teilweise nicht weniger diffuse Grundbegriffe auf, zu denen sich eine Diskussion als fruchtbar erweisen würde: beispielsweise das „politische Atom“, der „gesellschaftliche Raum“, die „ursprüngliche Teilung“, das „Außen“ und das „Innen“ einer Gesellschaft, sowie „Ideologie“. Aufgrund der Fülle an Material im Text werde ich lediglich die groben Argumentationslinien nachvollziehen und nicht auf alle aufgeführten Begriffe eingehen.
Zu Beginn des teilweise schwer verständlichen Textes, kritisiert Lefort die liberal-rationalistische Konzeption, welche ihm zufolge die tatsächlichen Herrschaftssysteme verschleiert: Eine kleine Minderheit besetzt die Machtposition, die große Mehrheit verbleibt ohne jeden Einfluss. Dies wird zusätzlich durch die rechtliche Stellung als mündige Staatsbürger „verdunkelt“. Er stellt schließlich die Frage, ob Macht in demokratischen Herrschaftssystemen einzig als „Instrument in den Händen der herrschenden Klasse“ zu verstehen ist (90).
Zusammenhang von Macht und Gesellschaft /gesellschaftlicher Teilung und Demokratischem System
Über das System der Macht sagt Lefort generell, dass es notwendigerweise entsteht, sobald sich eine Gesellschaft bildet (als „Antwort“ auf die „Fragestellung“ des Auftretens einer Gesellschaft) und die Art der Machtverteilung konstituiert das Gesellschaftliche mit (91). Anders ausgedrückt: durch die Herausbildung unterschiedlicher Teile einer Gesellschaft , z.B. in Form antagonistischer Klassen oder des Dualismus von Staat und Zivilgesellschaft, bildet sich eine gesellschaftliche Identität heraus.
Das Demokratische System wiederum setzt an dieser Stelle an, da es auf der Anerkennung dieser gesellschaftlichen Teilung und der hieraus entstehenden Konflikte beruht. Lefort zufolge hängt die Tatsache, dass das demokratische System sich zu dem Zeitpunkt entwickelt, als Klassenkonflikte spürbar werden, auch hiermit zusammen (spätestens hier wird der Einfluss marxistischer Begrifflichkeiten deutlich). Ob das Konfliktpotential zwischen einzelnen Teilen der Gesellschaft als unüberwindbar angesehen wird, bildet für Lefort also den Mittelpunkt der Frage nach dem politischen System: Wird die Teilung der Gesellschaft geleugnet oder versucht, alle Konflikte auszuräumen, entstehen totalitäre Strukturen (92). Insgesamt zeichnet er ein kritisches Bild der demokratischen Ordnung und will sie nicht als „gute Herrschaftsordnung“ bezeichnen (93).
Einen besonderen Platz in der Identitätsstiftung einer Gesellschaft nimmt die „ursprüngliche Teilung“ ein, die als solche nicht fassbar ist (96). Von ihr ausgehend bezieht sich das Gesellschaftliche fortlaufend auf sich selbst und wird zur „fortgesetzten Stiftung und Institution seiner selbst“ (96).
Macht als instituierende Instanz des gesellschaftlichen Raumes
Lefort vertritt im vorliegenden Text einen engen Machtbegriff: Er beschreibt „Macht“ als Instanz, die von einer Gruppe von Menschen besetzt wird, die diese Macht ausüben und stets davon bedroht sind, diese Macht wieder zu verlieren. Trotzdem ist die Macht nicht als einzelner Akteur zu sehen, sondern nimmt auf vielen gesellschaftlichen Ebenen Einfluss (97). Der gesellschaftliche Raum wird erst durch die Ausübung von Macht konstituiert (ebd.), (an dieser Stelle böte sich z.B. ein Vergleich mit Bourdieus gleichnamigem Konzept an).
Die symbolische Aufgabe der Macht besteht dabei darin, die „Allgemeinheit“ zu verkörpern, sich dabei aber selbst nicht als Individuum oder Gruppe von Individuen zu erkennen zu geben. Ein Bild der „Andersartigkeit“ muss unaufhörlich inszeniert und reproduziert werden (Lefort spricht hier auch von „Transzendenz“) (98). Diese Aufteilung ist wiederum konstituierend für die gesellschaftliche Identitätsbildung: „Denn mit der Spaltung von Macht und Zivilgesellschaft entfaltet sich eine Dimension der Äußerlichkeit (exteriorité) als Dimension der Gesellschaftlichen Identität. Durch die Macht bezieht sich die Gesellschaft auf ihr Außen als auf jenen von ihr entfernten virtuellen Ort, von dem aus die Regierung gleichsam die Macht eines absoluten Beobachters über das Gemeinwesen ausüben würde“ (101).
Dieser abwesende Ort ermöglicht eine Dimension des universell Gemeinschaftlichen, eine Ebene auf der sich alle begegnen, und auf der Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Ganzen ermöglicht wird. Auf dieser Ebene bekommen Individuen durch kollektive Handlungen das Gefühl, ein Teil der Geschichte zu werden (Lefort nennt hier politische Praktiken wie den Wahlgang und Demonstrationen) (101, 121).
Besonders das Wahlrecht nimmt eine übergeordnete Stellung ein, Léfort bezeichnet es als „zentrale Institution des demokratischen Herrschaftssystems“ (105). Durch sie wird auf zwei Arten gesellschaftliche Identität realisiert: Zum einen durch den kollektiven Akt der Wahl (vgl. 113,121), zum anderen übernimmt sie die symbolische Funktion der Artikulation gesellschaftlicher Konflikte, die ebenfalls konstitutiv für die Identität einer Gesellschaft sind (108, 114). Mit diesem Ansatz der Analyse grenzt sich Lefort von „herkömmlichen“ Zugängen ab, deren Fokus entweder auf der technischen Nennung einer Regierung liegt, oder die den Wahl-Prozess als Akt der Verschleierung von Herrschaftsstrukturen ansehen, die der ausgebeuteten Mehrheit keine tatsächliche Einflussnahme ermöglichen (118).
Neben den teilweise schon angerissenen Fragen zu Grundbegriffen (m.E. wäre eine Diskussion zu Leforts Verständnis von Ideologie zusätzlich sinnvoll) finde ich die Frage spannend, inwiefern Aktivitäten auf sozialen Netzwerken auch solche kollektiven Handlungen darstellen können.
Literatur:
Lefort C./Gauchet M. 1990: „Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen“ , in: Ulrich Rödel (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 89-122.
Nun, ich würde nicht sagen, dass dieser Text nicht „teilweise schwer verständlich“, sondern vollkommen schwer verständlich ist. Satzbau, Wortwahl und das teils sehr realitätsferne Abstraktionsniveau machen wir das Verständnis, was genau Lefort mir über Demokratie sagen möchte, sehr schwer.
Nachdem ich diese Unverständlichkeit hingenommen hatte, habe ich versucht, den Text unter dem Aspekt der Methoden der Politischen Theorie gelesen. Unserer AG ist es ja seit Langem ein Anliegen, uns über Methoden der Politischen Theorie zu verständigen. Kann man in Leforts Text eine nachvollziehbare Methodik erkennen? Ich finde keine, ich habe das Gefühl, Lefort verfolgt den für viele Theoretiker typischen „Freistil“ und springt von Punkt zu Punkt, wie es ihm gerade gefällt. Vielleicht habe ich aber auch die Methodik bloß übersehen?
Positiv finde ich aber, dass Lefort hier etwas klarer definiert, was er unter Totalitarismus versteht: nämlich alles, was die Teilung der Gesellschaft negiert; das scheint mir eine etwas sehr weite Definition dessen, was totalitär ist. Aber mit dieser Definition kann auch das neoliberal-demokratische Regime als totalitär betrachtet werden.
Deine letzte Feststellung, SD, ist von Lefort inhaltlich sicher so intendiert. Leforts und Gauchets Kritik an rationalistischen, positivistischen Objektivismen beinhaltet ja auch eine Problematisierung derjenigen Positionen, die in der Wahl allein die Aggregation von Interessen der ‚politischen Atome‘ vermuten und im Prozess der Wahl selber bereits eine Legitimationsfunktion politischen Entscheidens sehen. Die Grundannahmen neoliberaler Spielarten der Demokratie zählen für die Autoren letztlich zu den entpolitisierenden Dynamiken, gegen die eine wilde Demokratie bestehen muss.
In späteren Texten beklagt Lefort die Abwesenheit eines politischen Projektes, welches sich gegen die globalen Dynamiken des Kapitalismus stellen kann. Ihm geht es dabei darum, dass auch eine sich selbst als global verstehende Gesellschaft durch die gesellschaftlichen Teilungen gekennzeichnet ist und demnach, um als demokratisch qualifiziert werden zu können, ökonomischen Dynamiken mediatisiert über das Politische ein Bild globaler Demokratie entgegenhalten müsste.
Zwei Dimensionen scheinen mir zum Nachvollzug der Position Leforts/Gauchets zentral. Zum einen, wie in Blogbeitrag und Kommentar herausgearbeitet, beziehen die Autoren die zentralen Begriffe der Politischen Theorie immer wieder auf eine sich selbst instituierende Gesellschaft – Politik ist nur vor dem Horizont der Fiktion einer Gesellschaft möglich, deren Einheitsfiktion sich keinesfalls materiell, sondern imaginär und symbolisch ausdrückt, die „Instanz des Imaginären bildet einen konstitutiven Bestandteil der politischen Instituierung“ (111, dies hat den netten Nebeneffekt, dass das von Chantal Mouffe gerne mit Carl Schmitt gestellte Problem der Begrenzung des demos hier nachrangig bleibt, da das Symbolische latenten und manifesten Rekonfigurationen wesentlich zugängiger ist und die Inklusions-/Exklusionsfrage zumindest auf der theoretischen Ebene nicht mehr mit Dissoziation beantwortet werden muss) . Daher stellt die Wahl einen symbolischen Übergang dar, indem die Vergegenwärtigung politisch-sozialer Konfliktlinien möglich wird, ohne dass dem Wahlergebnis eine empirische Qualität im Sinne der Messung objektiv gegebener Differenzen zukommt: Die „Rückbiegung des Politischen auf das Ökonomische verschleiert erst jene eigene Grundlage, die die Institution eines Systems der Macht im Gesellschaftlichen findet“ (90, die Institution wäre hier besser mit der ‚Einrichtung‘ übersetzt worden).
Lefort und Gauchet können daher auch, zweitens, dem Klassenantagonismus trotzt ihre Kritik marxistischer Theoreme einen theoretischen Gehalt abgewinnen. Die mehr oder weniger zeitgleiche Offenbarwerdung demokratischer und ökonomischer Konflikte liegt auch darin begründet, dass Arbeiter_innen sich in letzteren eben nicht nur als ökonomisch Ungleiche sondern vor dem Hintergrund des Entstehens der Demokratie auch als politisch Ungleiche verstehen konnten. Die politische Dimension lässt sich nicht auf die wirtschaftliche reduzieren, das Faktum und die Möglichkeit politischer Ungleichheit sind ein auf nichts Vorgängiges zurückzuführender Skandal der modernen Gesellschaft und können somit Auskunft über die politische Formgebung des Gesellschaftlichen geben. In anderen Worten: Das Verwehren radikaler Gleichheit hinsichtlich des Politischen stellt in sich bereits ein Bruch mit der modernen Demokratie dar, da sich diese, mit Lefort gedacht, gerade durch die Unterbestimmtheit der Andersartigkeit im Aufeinandertreffen des Heterogenen auszeichnet – und es ihr gelingt, diese Konflikthaftigkeit durch einen „inklusiven Antagonismus“ zu rahmen.
Mit diesen Erläuterungen kommt mir die politische Theorie Leforts etwas näher. Allerdings noch eine Nachfrage zu deiner ersten Anmerkung: „Politik ist nur vor dem Horizont der Fiktion einer Gesellschaft möglich, deren Einheitsfiktion sich keinesfalls materiell, sondern imaginär und symbolisch ausdrückt.“
Ist das so wörtlich zu nehmen, d. h., es gibt keine Politik in einer Gesellschaft, die entweder auch „materiell“ (nicht nur symbolisch) einheitlich bzw. homogen ist oder die überhaupt keine Einheitsfiktion bereitstellt? Differenziert Lefort also Politik nicht, d. h. unterscheidet er nicht zwischen demokratischer und autoritärer/diktatorischer Politik; sondern gibt es für ihn Politik und (wenn obige Bedingungen nicht erfüllt sind) keine Politik? – aber wie nennt er das dann, wenn ein Diktator Gesetze/Verordnungen „macht“, wenn er Parteien verbietet oder Bürgerkriege anordnet?
Ich würde das Zitat etwas anders auseinanderschrauben: Die Selbstinstituierung moderner Gesellschaften und die Einheitsfiktion können als etwas ko-konstitutives gedacht werden. Gesellschaft ohne Einheitsfiktion wäre für Lefort und Gauchet dann nicht denkbar, die Option einer Gesellschaft ohne Einheitsfiktion entfällt. Dass sich der gesellschaftliche Konflikt im Symbolischen ausdrückt, die vorgängige Teilung der Gesellschaft also im symbolischen Übergang der Wahl einen Ausdruck erhalten kann, lässt es tatsächlich zu, die nahegelegten Implikationen des Begriffs der Einheitsfiktion an einer Stelle zu problematisieren: Es geht hier um die Prämisse, dass mit einer Einheitsannahme gehandelt und gestritten wird, auch wenn dieser „inklusive Antagonismus“ natürlich Partikularität ‚kennt‘ und nicht implizieren soll, dass es de facto so etwas wie eine symbolische Homogenität gäbe – schließlich wäre dann ja die totalitäre Rückführung des Nicht-Festlegbaren auf das Eine vollkommen. Auf diesem Wege, so würde ich Lefort/Gauchet lesen, lässt sich dann auch erklären, warum Politik nur vor dem Horizont einer Einheitsfiktion symbolischer Spielart möglich ist: Politik würde gar nicht stattfinden, wenn es diesen Horizont nicht gäbe, da er den symbolischen Referenzrahmen für die Kontestation hegemonialer (Selbst-)Verständnisse der Gesellschaft bereitstellt.
Dann ist übrigens auch diktatorisches Handeln Politik, denn der Totalitarismus verfügt über eine Einheitsfiktion – und die Tendenz, diese Einheit durch Auslöschung des Anderen herstellen zu wollen. Ungeklärt bliebe also (an dieser Stelle, mit diesem Text und vielleicht auch Allgemein im Werk Leforts) die Frage nach der Beurteilung radikaler Fragmentation, entweder im Sinne der Postmoderne oder im Sinne ‚gescheiterter Staatlichkeit‘ (materiell, wenn man so will…).
Erstmal danke Sibylle für deinen Beitrag zu diesem sehr dichten und teilweise schwergängigen Text.
Durch die bisherige Diskussion sind mir allerdings bereits einige Punkte wesentlich klarer, wobei mir immer mehr eine gewisse Ähnlichkeit von Leforts Argumentation zu poststrukturalistischen Ansätzen auffällt.
Inbesondere hinsichtlich der Unabgeschlossenheit der Demokratie und ihrem ständigen Widerstreit zwischen extremen Positionen. Oder dem Gedanken, der sich auch bei Laclau/Mouffe wiederfindet, dass jede politische Position trotz ihres partikularen Charakters nach Universalisierung streben muss, wenn sie im politischen Wettbewerb überhaupt erfolgreich sein will.
So ist das Totalitäre wesentlich im demokratischen System angelegt – bzw. es stellt sich die Frage, ob es überhaupt Herrschaftsformen ohne totalitäre Tendenzen geben kann.
2 konkrete Fragen, die sich mir gerade noch stellen sind:
1) Wie genau definiert Lefort die ‚politischen Atome‘ (als gesellschaftliche Subjekte)? Sind diese für ihn feste Entitäten, oder sind sie (zumindest teilweise) durch die Gesellschaft formbar?
2) Und zielt er mit seiner „Kritik an rationalistischen, positivistischen Objektivismen“ auf bestimmte Autoren/Ansätze?