1 Über die Reproduktion der Produktionsbedingungen
Althusser beginnt seinen Aufsatz mit einer marxistischen Setzung: Jede Gesellschaftsformation beruht auf einer dominierenden Produktionsweise, wobei der Produktionsprozess „die bestehenden Produktivkräfte in und unter bestimmten Produktionsverhältnissen in Bewegung setzt“ (109). Um zu überleben muss die Gesellschaftsformation die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse reproduzieren. Damit meint er jedoch nicht nur die Produktionsmittel, sondern insbesondere auch die Arbeitskraft, deren Reproduktion primär außerhalb des Betriebes erfolgt. Dies ist zum einen durch den Lohn gegeben, aber auch hier wird deutlich, dass Althusser einen anderen Schwerpunkt setzen möchte – denn es geht ihm um die ‚Kompetenz‘ der Arbeitskraft, damit sie im System des Produktionsprozesses eingesetzt werden kann. Diese findet nicht mehr in erster Linie in der Produktion statt, sondern durch das kapitalistische Schulsystem (111). Man erlerne dort gewisse Fähigkeiten und die Regeln des ‚Anstands‘ (112) – und damit die Einordnung in das bestehende System („Unterwerfung unter die herrschende Ideologie“ (112)). Damit betont er die Wirksamkeit einer neuen Realität: die der Ideologie, die im Zentrum dieses Aufsatzes steht.
2 Basis und Überbau
Althusser geht darauf hin auf die marxistische Metapher der Basis und des Überbaus ein, die – entgegen der hegelianischen Totalität – Gesellschaft in verschiedenen Ebenen denkt. Dabei trägt die ökonomische Basis (Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse) den Überbau (juristisch-politisch und Ideologie) und determiniert diesen ‚in letzter Instanz‘ (113). Das Determinierungsmerkmal des Überbaus könne dabei auf zwei Arten gedacht werden: 1) Es besteht eine relative Autonomie des Überbaus gegenüber der Basis; 2) Es gibt eine Rückwirkung des Überbaus auf die Basis (114). Um dieses Problem zu bearbeiten kritisiert er zum einen die räumliche Basis-Überbau-Topik, da sie lediglich beschreibend sei; und stellt zum anderen die These auf, dass man dazu diese Frage vom Standpunkt der Reproduktion aus denken müsse (114 f.).
3 Der Staat
In der marxistischen Tradition wird der Staat als repressiver Apparat, als Unterdrückungsmaschine der herrschenden Klasse gedacht. Er besteht dabei aus dem spezialisierten Apparat (Polizei, Gerichte, Gefängnisse), der Armee (als ergänzende repressive Macht), dem Staatschef, der Regierung und der Verwaltung. Seine grundlegende Funktion sei die repressive Ausführungs- und Interventionsmacht (115). Doch auch hier bleibe die Darlegung der Natur des Staates zum Teil beschreibend, so Althusser (116). Wissenschaftliche Entdeckungen müssten zwar durch diese Phase der beschreibenden Theorie hindurchgehen, um sie jedoch zu überwinden, müsse hier der klassischen Definition des Staates als Staatsapparat etwas hinzugefügt werden (117). Denn obwohl die marxistischen Klassiker in ihrer politischen Praxis den Staat bereits als komplexere Realität behandelt hätten, sei dies noch nicht theoretisch integriert worden (119).
Und so fährt er fort: Der ganze politische Klassenkampf dreht sich um den Staat; der nun unterschieden werden müsse in Staatsapparat und Staatsmacht, dessen Verteidigung oder Eroberung das Ziel des politischen Klassenkampfes darstellt (118). Zudem kann der Staatsapparat weiter unterschieden werden in den repressiven Staatsapparat und die ideologischen Staatsapparate (ISA), womit er zum Kern seiner Ausführungen kommt (119). Für die ideologischen Staatsapparate wird von Althusser eine empirische Liste vorgeschlagen: religiöse (Kirchen); schulische (Bildungsinstitutionen); familiäre; juristische; politische (politisches System inklusive Parteien); gewerkschaftliche (was auch Berufs- und Unternehmerverbände mit einschließt); Information (Presse, Radio, Fernsehen etc.); kulturelle (Literatur, Kunst, Sport usw.) (119-120).
Die ISA unterscheiden sich vom repressiven Staatsapparat zunächst darin, dass es nur einen (repressiven) Staatsapparat gibt, der zum öffentlichen Sektor gehört; jedoch eine Vielzahl von ideologischen Staatsapparaten, die größtenteils dem privaten Sektor zugerechnet werden können. Mit Bezug auf Gramsci weist Althusser darauf hin, dass trotzdem von ideologischen Staatsapparaten gesprochen werden kann, da die Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten dem bürgerlichen Recht innewohne, und überall gelte, wo dieses seine Macht ausübe. Der Staat hingegen stehe über diesem Recht und sei vielmehr die Bedingung dieser Unterscheidung. Und so können auch private Institutionen als ideologische Staatsapparate ‚funktionieren‘ (120). Der grundlegende Unterschied liegt jedoch in der Funktionsweise: denn der repressive Staatsapparat funktioniert auf Grundlage der Gewalt, die ISA auf Grundlage der Ideologie; wobei sie jeweils auch Anteile des anderen enthalten können (121). Die Einheit der angeblich disparaten ISA wird durch ihre Funktionsweise hergestellt, da sie alle auf Grundlage der herrschenden Ideologie funktionieren. Dazu formuliert Althusser die These, dass „keine herrschende Klasse dauerhaft die Staatsmacht innehaben [kann], ohne gleichzeitig ihre Hegemonie über und in den Ideologischen Staatsapparaten auszuüben“ (122, Herv. i. O.). Die ISA sind damit nicht nur Einsatz, sondern auch Ort des Klassenkampfes (122).
4 Über die Reproduktion der Produktionsverhältnisse
Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse erfolgt durch den juristisch-politischen und den ideologischen Überbau; bzw. durch die Ausübung der Staatsmacht in den Staatsapparaten, wobei die Reproduktion arbeitsteilig abläuft (siehe Tabelle) (123).
Repressive Staatsapparate | Ideologische Staatsapparate | |
Funktionsweise | Repression/Gewalt (physisch und nicht physisch) | Ideologie |
Organisationsform | Ein organisiertes und zentralisiertes Ganzes | Vielfältig und relativ autonom
-> bieten Felder für Widersprüche |
Öffentlich/Privat | Öffentlicher Sektor | (Mehrheitlich) privater Sektor |
Einheitssicherung | Durch zentralisierte Organisation | Durch herrschende Ideologie |
Reproduktion | Mit physischer und nicht physischer Gewalt werden die politischen Bedingungen der Reproduktion der Produktionsverhältnisse gesichert.
Die Selbstreproduktion und die Schaffung der politischen Bedingungen für die Arbeit der ISA wird durch Repression (Gewalt bis hin zu Anordnungen) gewährleistet. |
Reproduktion der Produktionsverhältnisse „unter dem ‚Schild‘ des repressiven Staatsapparates“.
Herstellung der „(manchmal knarrenden) ‚Harmonie‘“ (124) zwischen dem repressiven Staatsapparat und den ISA durch die herrschende Ideologie. Alle ISA haben die gemeinsame Funktion, die Produktionsverhält- nisse zu reproduzieren. |
Im Gegensatz zu feudalen Gesellschaften, in denen es mit der Kirche einen dominierenden ISA gab, sei in den reifen kapitalistischen Formationen der schulische ISA in eine hegemoniale Position gebracht worden (124-126). In der bürgerlichen ideologischen Vorstellung würde dies jedoch dadurch verschleiert, indem der politische ideologische Staatsapparat (das Regime der parlamentarischen Demokratie) als ideologische Institution dargestellt wird. Die Geschichte zeige jedoch, dass sich die Bourgeoisie auch mit anderen politischen ISA arrangieren konnte (z. B. der konstitutionellen oder der parlamentarischen Monarchie wie auch mit der Präsidialdemokratie) (126).
Der schulische ISA spielt unter allen ISA eine besondere Rolle, denn vom Kindergarten an werden alle sozialen Klassen obligatorisch jahrelang geprägt bis „mit 16 Jahren […] eine enorme Masse von Kindern in die Produktion“ ‚fällt‘ (128 f.); wobei das Erlernen von Fähigkeiten die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaftsformation reproduziert. Und so sei die Schule kein neutrales Milieu, wie es die bürgerliche Ideologie darstelle, stattdessen werde sie durch die Ideologie als ‚natürlich‘, ‚unentbehrlich-nützlich‘ oder gar wohltätig dargestellt, wie dies früher bei der Kirche der Fall gewesen sei.
5 Über die Ideologie
Althusser verfolgt das Ziel, eine Theorie der Ideologie im Allgemeinen zu verfassen, die über keine Geschichte verfügt; im Gegensatz zu einer Theorie der besonderen Ideologien, die Klassenpositionen ausdrücken, und die auf der Geschichte der Gesellschaftsformationen ruht (131). Obwohl sich Althusser begrifflich auf Marx bezieht, grenzt er sich auch von der rein imaginären Konstruktion in der ‚deutschen Ideologie‘ ab und geht stattdessen davon aus, dass Ideologien eine eigene Geschichte haben, dass aber Ideologie im Allgemeinen keine Geschichte hat (in einem positiven Sinne), da es sich um eine Struktur und Funktionsweise handelt, die von omnihistorischer Realität ist (131 f.).
Für Althusser repräsentiert die Ideologie nicht die realen Existenzbedingungen, sondern das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen. Dieses Verhältnis sei die Ursache der imaginären Verzerrung der realen Welt durch die ideologische Vorstellung (133-135).
Doch gleichzeitig verfügt die Ideologie über eine materielle Existenz: „Eine Ideologie existiert immer in einem Apparat und dessen Praxis oder dessen Praxen. Diese Existenz ist materiell.“ (137) Und so schließt Althusser daran die Frage an, was sich in den Individuen abspielt, die in der Ideologie leben, und beantwortet diese wie folgt. Ein Subjekt wird durch folgendes System bewegt: die Ideologie, die innerhalb eines materiellen ideologischen Apparates existiert, schreibt materielle Praxen vor, die durch materielle Rituale geregelt werden, wobei die Praxen in den materiellen Handlungen der Subjekte existieren, die mit vollem Bewusstsein entsprechend ihrem Glauben handeln (139). Der Begriff des Subjektes ist dabei für Althusser zentral, wozu er zwei Thesen formuliert:
- Es gibt Praxis nur durch und unter einer Ideologie
- Es gibt Ideologie nur durch das Subjekt und für Subjekte
Die Bestimmung der Ideologie kann also nur durch die Kategorie des Subjektes und dessen Funktionsweise erfolgen.
Die Kategorie des Subjektes sei zwar erst mit der bürgerlichen und der juristischen Ideologie aufgekommen, habe jedoch bereits unter verschiedenen Bezeichnungen funktioniert (bei Platon: die Seele, Gott) und sei die konstitutive Kategorie jeder Ideologie (140). Und so sei es die Funktion jeder Ideologie konkrete Individuen zu Subjekten zu ‚konstituieren‘; wobei der Mensch ein ideologisches Wesen sei (140). Die Kategorie des Subjektes stellt dabei eine primäre Evidenz dar; wobei es gerade ein ideologischer Effekt sei, Evidenzen als Evidenzen aufzudrängen (ohne dass dies auffalle) und sie nicht zum Problem werden zu lassen. Die Anerkennung/Wiedererkennung von Evidenzen sowie der Vorgang der Verkennung stellen dabei die beiden Funktionen der Ideologie dar (141). Jeder ist also immer schon ein Subjekt und praktiziert Wiedererkennungsrituale, die bestätigen, dass wir konkrete, individuelle, unverwechselbare und unersetzliche Subjekte sind (141 f.).
Des Weiteren ‚handelt‘ oder ‚funktioniert‘ die Ideologie durch den Vorgang der Anrufung (interpellation) und ‚rekrutiert‘ aus der Masse der Individuen Subjekte (und zwar alle!) bzw. ‚transformiert‘ sie. Dazu formuliert Althusser die viel zitierte Straßenszene:
„Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: ‚He, Sie da!‘
Wenn wir einmal annehmen, dass die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, dass der Anruf ‚genau‘ ihm galt und dass es ‚gerade es war, das angerufen wurde‘ (und niemand anderes).“ (142 f.)
Das Individuum, das sich umdreht, erkennt damit an, dass es gemeint ist. In diesem Beispiel gibt es eine zeitliche Abfolge, die es für Althusser in Wirklichkeit aber gar nicht gibt – die Existenz der Ideologie und die Anrufung der Individuen als Subjekte seien dasselbe. Da die Ideologie ewig ist, kann gesagt werden, dass die Ideologie immer schon die Individuen als Subjekte angerufen hat: Die Individuen sind also immer schon Subjekte (144).
Ein zweiter Effekt der Ideologie ist die Verneinung des ideologischen Charakters der Ideologie durch die Ideologie, was er etwa am Beispiel der schulischen ISA deutlich macht.
Abschließend geht Althusser der Frage nach, wie „die ‚Akteure‘ dieser Inszenierung der Anrufung und ihre respektiven Rollen sich in der Struktur jeder Ideologie widerspiegeln“ (145) und führt dies am Beispiel der christlichen religiösen Ideologie vor (wobei dies auch für andere Ideologien gelte).
Um die christliche religiöse Ideologie ‚zum Sprechen zu bringen‘, trägt Althusser einen fiktiven Diskurs der Testamente, Theologen, Predigten, Praxen, Rituale, Zeremonien und Sakramente zusammen. Dabei sei die Voraussetzung für die religiösen Subjekte das Absolute andere SUBJEKT – nämlich Gott, in dessen Namen alle Individuen als Subjekte angerufen werden (146). Zentral ist für ihn dabei die spiegelhafte Struktur, in der Gott das SUBJEKT, Moses und all die anderen Subjekte seine Gesprächspartner, seine Spiegel, seine Widerspiegelungen darstellen (146 f.). Diese spiegelhafte Verdoppelung sei konstitutiv für die Ideologie und gewährleiste zugleich ihre Funktionsweise, indem sie (1) die Individuen als Subjekte anruft; sie (2) unter das SUBJEKT unterwirft; (3) die wechselseitige Wiedererkennung gewährleistet; und (4) eine absolute Garantie gibt, dass alles gut ist, wenn sich die Subjekte entsprechend verhalten (147). In diesem vierfachen System ‚funktionieren‘ die Subjekte meistens ‚ganz von alleine‘ innerhalb der Ideologie, und nur gelegentlich wird der repressive Staatsapparat benötigt (148). Sie fügen sich in die Praxen – die von den Ritualen der ISA beherrscht werden – ein, ‚erkennen‘ das Bestehende an und drücken es durch ihr konkretes materielles Verhalten aus.
Althusser verweist in diesem Kontext auf die konstitutive Mehrdeutigkeit des Ausdrucks Subjekt:
- die geläufige Bedeutung ist die freie Subjektivität, die das Zentrum der Initiative darstellt und damit Urheberin und Verantwortliche ihrer Handlungen ist;
- zugleich bezeichnet es ein unterworfenes Wesen, das einer höheren Autorität untergeordnet ist und daher freiwillig seine Unterwerfung anerkennen muss.
„Das Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es sich freiwillig den Anordnungen des SUBJEKTS unterwirft, damit es also (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert und folglich ‚ganz von allein‘ die Gesten und Handlungen seiner Unterwerfung ‚vollzieht‘. Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung. Deshalb funktionieren sie ‚ganz von alleine‘.“ (148)
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Fußnote des Übersetzers, in der er auf das französische Verb ‚assujetir‘ und seine Doppelbedeutung hinweist, das sowohl für ‚unterwerfen‘ als auch für ‚zum Subjekt machen‘ steht. Im Deutschen gäbe es diese Bedeutung nur noch gelegentlich bei der Verwendung des Begriffs ‚Subjekt‘ für ‚Untertan‘ (146).
Abschließend hält Althusser fest, dass die Reproduktion der Produktionsverhältnisse täglich (über das Bewusstsein) im Verhalten der Individuen-Subjekte gewährleistet wird. Beim Mechanismus der spiegelhaften Wiedererkennung des SUBJEKTS (was in den Formen der Widererkennung notwendig verkannt wird, da Ideologie = Wiedererkennung/Verkennung) geht es um die Reproduktion der Produktionsverhältnisse und der aus ihnen abgeleiteten Verhältnisse (149). Und so lenkt er das Interesse auf die Funktionsweise der Ideologie, ihre materielle Dimension in den ISA und die Reproduktion der Produktionsverhältnisse durch das tägliche materielle Verhalten der Subjekte.
Bildquelle: By Arturo Espinosa from Barcelona, Cataluña (España) (Louis Althusser for Pifal) [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons
Danke für die tolle Zusammenfassung und vor allem auch die Auswahl des Aufsatzes. War ein Kandidat auf der Liste ‚muss unbedingt mal gelesen werden‘. Ich war insbesondere überrascht, dass die bekannte Szene zur Anrufung in dem Text gar keine so zentrale theoretische Rolle spielt, wie ich vermutet hätte. Es ist ja eher eine ‚Verlängerung‘ des Arguments zu der zentralen Rolle der Reproduktion der Produktionsverhältnisse und keine völlig eigenständige ‚Theorie der Anrufung‘. Ich würde, weil die Zusammenfassung wirklich sehr gelungen und ausführlich ist, einfach zwei weitergehende Punkte ausführen, die mir während des Lesens aufgefallen sind.
Die Art des Bezugs auf die marxistische Theorie
Als marxistischer Theoretiker und Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs ist es auf den ersten Blick natürlich wenig verwunderlich, dass Althusser sehr vorsichtig mit der Kritik an den marxistischen Klassikern ist. An vielen Stellen des Aufsatzes merkt man, wie die Sprache vorsichtiger wird, die geschlagenen Bögen etwas größer und die Verteilung von Anerkennung großzügiger. Andererseits versucht Althusser in dem Artikel natürlich auch auf Schwachstellen oder offene Fragen einzugehen, die in der marxistischen Theorie bislang nicht diskutiert wurden. Man könnte weiter zuspitzen und sagen (was Althusser nicht tut), dass diese klassischen, beschränkten Vorstellungen über Ideologie und den Staat, die er hier durch eine differenziertere Sichtweise ersetzen will, in der Geschichte der Revolutionen politische Auswirkungen hatten. Was hieße es zum Beispiel für eine sozialistische oder kommunistische Revolution, Kirche, Schule und ‚Medien‘ als ideologische Staatsapparate zu behandeln? Müsste man dann auf dem Weg zum Sozialismus oder Kommunismus nicht mehr machen, als ‚nur‘ den bürgerlichen Staat ‚einzunehmen‘ und die Produktionsmittel zu vergesellschaften? Warum muss (!) Althussers konstruktive Kritik am Marxismus nicht expliziter werden?
Ich würde behaupten, dass das an einem interessanten Kunstgriff Althussers liegt, der mir schon beim Lesen von ‚Für Marx‘ aufgefallen ist. Dass dieser Kunstgriff in dem Aufsatz jetzt wieder auftaucht, macht es hoffentlich legitim, darüber ein paar Worte zu verlieren. Der Kunstgriff ist im Grunde sehr simpel und besteht aus einem Argument, das man vielleicht ‚in der Praxis schon gelöst‘-Argument nennen kann. Wie in der Zusammenfassung schon sehr schön deutlich geworden ist, will Althusser vor allem über die bloß beschreibende marxistische Staatstheorie hinausgehen und zu einer analytischen oder ‚richtigen‘ Theorie des Staates gelangen. Dabei will er die Klassiker des Marxismus sozusagen zugleich kritisieren und nicht-kritisieren. Was also machen? Althusser schreibt dazu folgendes:
„Man müsste also der ‚marxistischen Staatstheorie‘ etwas anderes hinzufügen. Wir müssen hier vorsichtig vorgehen auf einem Gebiet, auf dem uns zwar die marxistischen Klassiker schon seit langem vorausgegangen sind, aber ohne in einer theoretischen Form die entscheidenden Fortschritte, die ihre Erfahrungen und ihr Vorgehen beinhaltet, systematisiert zu habe. Ihre Erfahrungen und ihr Vorgehen blieben nämlich vor allem auf das Gebiet der politischen Praxis beschränkt. … Sie haben diese Komplexität (des Staates) in der Praxis anerkannt, aber sie nicht in einer entsprechenden Theorie zum Ausdruck gebracht“ (119).
Im Grunde sagt Althusser hier Marx, Lenin etc. hätten zwar eine heillos einfache, bloß beschreibende Vorstellung vom Staat – ABER: sie hätten praktisch nicht so gehandelt. Trotz ihrer simplen Vorstellung hätten sie politisch so gehandelt, als hätten sie eine komplexere Vorstellung. Marx und Lenin hatten also keine Ahnung, keine richtige theoretische Vorstellung vom Staat, handelten aber so, als hätten sie eine. Sie haben also ‚intuitiv‘ richtig gehandelt ohne richtige Theorie. Oder, wie Althusser etwas charmanter sagt: In der Praxis haben die Klassiker die Probleme gelöst, sie aber theoretisch nicht reflektiert (aus welchen Gründen auch immer). Jetzt muss Althusser lediglich diese Erkenntnisse der Praxis in Theorie übersetzen, muss damit den Klassikern nicht widersprechen, sondern sie lediglich ausbuchstabieren.
Man kann diesen Kunstgriff natürlich ganz einfach als Strategie lesen, die marxistischen Klassiker zu kritisieren ohne sie zu widerlegen und Marx oder Lenin vorzuwerfen, einer von beiden hätte etwas falsch aufgefasst (denn in der Praxis waren sie ja ‚klüger‘ als in der Theorie). Das ‚in der Praxis schon gelöst‘-Argument wäre dann so etwas wie die Vorraussetzung dafür, in etwas dogmatischeren marxistischen Kreisen trotz des Vorbringens von Kritik noch angehört und akzeptiert zu werden.
Die Prekarität der Wahrheit
Ein Kunstgriff also lediglich für das Publikum? Ich denke man könnte diese interessante Figur auch als einen Hinweis auf die sehr prekäre Rolle der Wahrheit im marxistischen Denken lesen. Wenn man also davon absieht, diesen Kunstgriff auf das Publikum zu schieben, müsste man dann nicht fragen, wo die systematischen Gründe für eine solche Figur liegen? Ganz grob und vorläufig habe ich dazu folgende erste Gedanken. Grundsätzlich geht es bei Marx doch um die richtige Einsicht (die kaum einer besitzt) und die ideologische Einsicht (die die meisten besitzen). Wie erlange ich die richtige Einsicht? Genau: Durch die THEORIE, wie Althusser sagen würde, das heißt, durch die Theorie der Gesellschaft, die Wissenschaft der Produktionsverhältnisse und der Entwicklung der Produktivkräfte. Die objektive Wahrheit dieser Theorie, die, aus welchen (historischen) Gründen auch immer, erst Marx fasst, ist allerdings schon in der Theorie selbst prekär. THEORIE und Prekarität gehören untrennbar zusammen. Warum? Ganz einfach weil Marx eben jenen Begriff der Ideologie, den Althusser in dem Aufsatz wieder ins Zentrum rückt, zusammen mit der Wahrheit einführt.
Bei Marx gibt es keine Wahrheit ohne Ideologie, gerade weil die Wahrheit notwendig verschleiert wird oder von der Verschleierung bedroht ist. Die erste und einfachste Form gibt es bei Marx auf der Ebene des kapitalistischen Tausches: Auf den ‚ersten Blick‘ ist der Tausch Arbeitskraft gegen Lohn fair. Ich verkaufe meine Arbeitskraft und bekomme dafür entsprechenden Lohn – alles geht mit rechten Dingen zu. Auf den ‚zweiten Blick‘ ist der Tausch dann aber – in Wahrheit – Ausbeutung, weil der Mehrwert im Kapitalismus nur durch die unbezahlte Mehrarbeit der Arbeiter zustande kommen kann. Diese Ausbeutung erscheint aber nicht zufällig als fair, nicht, weil einige nicht ‚schlau‘ genug sind. Im Gegenteil muss diese Ausbeutung systematisch, notwendig als fair erscheinen, weil die Wahrheit ständig von der Ideologie verdeckt wird. Die Wahrheit existiert also nur zusammen mit ihrer Verschleierung. Schon in der Theorie ist die Wahrheit des Marxismus also notwendig prekär, das Ergebnis von intellektueller Arbeit und langen historischen Kämpfen. Die Wahrheit der marxistischen Klassiker ist instabil, zerbrechlich, immer wieder bedroht von historischen und politischen Angriffen. Die Wahrheit muss also, im Umkehrschluss, beschützt werden, sie muss gestärkt und genährt werden. Das bedeutet, dass Kritik an der THEORIE eigentlich nur die narrative Form des ‚Weitererzählens‘ und ‚Ausbuchstabierens‘ haben kann. Alles andere würde die prekäre Existenz der Wahrheit bedrohen.
Abgesehen davon, dass man aus poststrukturalistischer Sicht alle möglichen Einwände gegen diesen starken Wahrheitsbegriff formulieren könnte, ist die spannende Frage doch: Ist diese Prekarität der Wahrheit und die damit zusammenhängende Art der ‚weitererzählenden‘ und ‚ausbuchstabierenden‘ Kritik nicht gerade das charakteristische der marxistischen Theorietradition? Und, um mich auf sehr dünnes Eis zu begeben, ist diese prekäre Rolle der Wahrheit nicht auch ein Grund dafür, dass linke Politik seit jeher fasziniert ist von der Wahrheit, sich streitet, teilt, ausschließt? Strategische und taktische Vorteile opfert um die prekäre Wahrheit zu schützen?
In jedem Fall ist die Frage der Ideologie und der Prekarität der Wahrheit vielleicht ein und diesselbe und daher war die Lektüre von Althussers ‚Ideologie und ideologische Staatsapparate‘ ziemlich interessant. Ich hatte noch einige Überlegungen zum Begriff der Überdetermination, aber ich denke ich habe hier schon genug geschrieben und bin gespannt auf die weitere Diskussion!