Der Text entstand aus einer Vorlesungsreihe zum 30-jährigen Jubiläum des Habermas Werkes „Erkenntnis und Interesse“ und wurde an der Uni Oldenburg veranstaltet. Der zu diskutierende Text ist von Bernhard Peters, der von 1993 bis zu seinem Tod 2005 Professor für Politische Theorie an der Universität Bremen war und sich v. a. mit Öffentlichkeitsforschung und Gesellschaftstheorie im Anschluss an Jürgen Habermas beschäftigte. Peters knüpft in seinem Beitrag an eben diese „Theorietradition“ an und fragt nach dem Verhältnis von Normativität und Empirie für die Gesellschaftstheorie und die Alltagspraxis. Ich werde nachfolgend nicht genau den Text rekonstruieren, sondern will die Problemlage, die Peters aufwirft, näher betrachten. Darauf richten sich schließlich auch die Fragen am Ende meines Textes.
Auf Seite 277 führt Peters aus, dass „[f]aktische gesellschaftliche Verhältnisse […] Normen oder Wertüberzeugungen oder wertorientiertes Handeln als Elemente der Realität [enthalten] – also als mögliche Gegenstände von Tatsachenaussagen.“ Die Trennung von normativen und empirischen Aussagen scheint demnach mehr analytischen, den (alltags-)praktischen Charakter zu besitzen; sobald Handlungen ausgeführt werden, enthalten sie eine Bedeutung und können verschieden interpretiert werden (z. B. Nicht-Wählen als Protest gegen eine Demokratieform oder als rationale Kosten-Nutzen-Entscheidung bei der die Kosten höher sind als der Nutzen). Anders herum unterliegen normativen Konzepten auch immer Aussagen über die Wirklichkeit oder schöpfen gar aus der Beobachtung der Realität ihre (kritisch) normativen Aussagen (man denke z. B. an Colin Crouchs „Postdemokratie“). Und er führt dann aus, dass solchen Problemen auf zweierlei Weise begegnet werden kann: Indem man allgemeine Prinzipien versucht anzuwenden oder indem man spezifische Problemlagen mit „allgemeinen Begründungen“ (279) konfrontiert und so jeweils mögliche blinde Flecken und Schwierigkeiten entdecken kann.
Peters führt dann weiter aus, dass so manch kritische Zeitdiagnosen v. a. mit Negativbegriffen beschrieben wird, um auf Missstände hinzuweisen (z. B. Entfremdung, Pathologie) ohne diese Begrifflichkeiten jedoch zu explizieren; deren Nutzung bleibt also zumeist vage und verhindert damit eine empirische Auseinandersetzung (287). Doch wie sehe eine normativ gehaltvolle Operationalisierung für die empirische Analyse aus und wie kann man „sicher gehen“ (relativ gesehen), dass bestimmte Wertüberzeugungen und Normen durch das untersuchte Handeln ausgedrückt werden; und nicht einfach vorgeschoben sind oder retrospektiv dem zugeschrieben werden (289-290)? Peters schlägt dafür vor, normative Annahmen als Heuristiken zu verwenden (290), um sie als eine Art Folien für die empirische Analyse zu nutzen. Sie würden damit gleichzeitig als theoretischer Rahmen wie kritischen Bezugspunkt für die Empirie dienen. (Hier scheint mir eine Ähnlichkeit zu bestehen zudem, was Axel Honneth im „Das Recht der Freiheit“ (2011) als ´normative Rekonstruktion´ bezeichnet und/oder wie es in der gegenwärtigen Methodendebatte unter Bezug auf Habermas unter dem Label „rationale Rekonstruktion“ firmiert, hier und hier z. B.).
Auch wenn in Peters Text noch andere interessante Idee stecken, will ich doch hier stoppen und nochmal gezielt nach dem Verhältnis von Normativität und Empirie fragen: Wie lassen sich Ansätze und Ideen der politischen Theorie und eine empirische Überprüfung miteinander verbinden? Kann beiden „Seiten“ überhaupt gleichwertig begegnet werden oder klafft nicht zwangsläufig eine Lücke auf einer der Seiten im Laufe eines Forschungsvorhaben (sei es Hausarbeit, sei es Abschlussarbeit), weil sich eine an Foucault orientierte Diskursanalyse sich kaum umsetzen lassen würde oder deliberative Praktiken nur sehr schwer als solche in der Wirklichkeit zu identifizieren sein werden. Vielleicht nicht ohne Grund wird deshalb eine solche Trennung – zwischen (normativer) politischer Theorie und empirischer Analyse der Politik – weiterhin vorgenommen; schließlich können normative Aussagesätze auch nicht empirisch falsifiziert werden.
Nur wenn man, und so verstehe ich Peters, die zu starke Gegenüberstellung von Normativität und Empirie überwinden will, dann müsste eine sozialwissenschaftliche Vermittlungsposition in der Verbindung von Theorie und Empirie bestehen; und dies jenseits der Proklamierung, dass dies gemacht werden sollte, sondern das es auch wirklich mal verzogen wird. Doch wie ließe sich Peters‘ Ansatz der Heuristik umsetzen. Peters´ Punkt der Heuristik erscheint mir hier noch zu vage.
Ein anderer Vermittlungsweg könnte sein, ein anderes Verständnis von Empirie für die politische Theorie zu etablieren. Empirie also nicht als Wirklichkeit, die in teils starre Kategorien und Hypothesen gepackt und exakt gemessen werden soll, um damit größtmögliche Objektivität, Reliabilität und Validität zu erhalten. Sondern möglicherweise bietet sich ein stärkerer Dialog mit post-positivistischen/interpretativen Forschungsmethoden an; wie sie in der qualitativen Forschung gängig sind. Die zentrale Frage wäre dann, wie solch ein Dialog aussehen könnte.
Ein spannender Text und ein erhellender Beitrag; für Auswahl und Input also zunächst ausdrücklich vielen Dank @ SW. Manchmal verdränge ich diesen Vorwurf gegen die Politische Theorie schon völlig, der ja doch von außen oft an sie herangetragen wird, dass all dieses Lesen alter Bücher ja nichts mit der Wirklichkeit zu tun habe. Nur Ideale und Utopien, unpraktisch durch und durch. Lieber mal ein Policy Paper lesen. Was antworten wir darauf? Und ist der Unterschied überhaupt so groß?
Unklarheit herrscht bei mir vor allem über die Rolle der Theorie. Es stimmt ja, dass Peters hier ausdrücklich das Verhältnis von empirischen und normativen Aussagen bespricht. Der Gegenstandsbereich der Politischen Theorie scheint also größer zu sein, als das was unter normative Konzepte fällt, für die ja mit Rawls und Habermas recht konkrete Bezugspunkte genannt werden. Es geht immer um Aussagen die Werturteile, also ein „Sollen“, umfassen. Was aber ist mit dem Anteil von Theorie, der vermeintlich nicht normativ, sondern „neutral“ ist? Sind empirische Aussagen also einfach auch Theorie?
Intuitiv denke ich weniger an die Begriffspaare Empirie-Normativität und Theorie-Praxis, sondern viel eher an das Verhältnis Empirie-Theorie. So wie Empirie nicht der Alltag ist, sondern die Wirklichkeit, so sagt Theorie nicht nur etwas aus über Sollen, sondern auch über Sein. Genau in diesem Sinne wird sie ja als Heuristik genutzt. Beispielsweise ließe sich der Staat als das Resultat eines Vertragsschlusses denken, um dem bedrohlichen Urzustand zu entfliehen. Er wird dadurch schlicht verständlicher. Anders als bei Rawls ist mir (ohne nochmal bei Hobbes nachgesehen zu haben) nicht klar, ob das so sein soll oder schlicht so ist. Aber gleichzeitig handelt es sich hier vielleicht auch nicht um eine der positivistisch falsifizierbaren Aussagen, die Peters‘ als empirische Aussagen bespricht, obwohl sie doch auch Theorie sein müssen, um durch die Empirie widerlegt werden zu können. Was ist mit noch viel stärker empirisch arbeitenden Theoretikern wie Tocqueville?
Den skizzierten Weg einer weniger kategorisiert und berechneten, sondern stärker interpretierten Wirklichkeit finde ich einen spannenden Ansatz, den ich unterstützen würde und der sich meines Erachtens doch vor dem eigentlichen Problem drückt. Letztlich dienen ja auch qualitative Forschungsergebnisse dazu die Wirklichkeit zu beschreiben und bieten noch keine Lösung all unseres Elends an. „Normative Theorien zielen letztlich auf Handlungsempfehlungen.“ (Peters 2000: 294). Man könnte auch sagen, sie sind große Policy Papers und haben mit Politischer Theorie gar nicht so viel zu tun.
Vielen Dank an SW für den spannenden Text, der einen schönen Kontrast zu dem der ersten Runde bildet. Ich hoffe Folgendes ist nicht zu diffus…
Auch wenn ich Peters Problematisierung einiges abgewinnen kann, glaube ich nicht, dass er die anvisierte Brücke schlagen kann. Indem er versucht die bipolare Kategorisierung durch ein ineinander verorten von Empirie und Theorie aufzulösen, bleibt er an eben dieser verhaftet. Ich frage mich, warum wir eine solch überholte Zweiteilung nicht ad acta legen, ist eine kaum zu trennende Verschränkung beider Sphären offensichtlich. Entsprechen diese Kategorien nicht viel eher der Identitätsbild von (uns) Wissenschaftler*Innen? (Zumindest wäre das ein Beweis
für die „empirische“ Wirkung „normativer“ Kategorien 😉 )
Aber wieder näher an den Text: Ich schließe mich Omn1 an, dass es nicht nur um das „Soll“ geht. So sind Interpretationshypothesen ebenfalls ein kritisch fragendes „Soll?“ (Vgl. Peters 290). Hier wird deutlich, dass eine epistemologische Differenz zwischen Alltag und Sozialwissenschaften aufgehoben scheint und der Holismus deshalb auch vage bleiben muss (Peters 296). Auf Basis dessen schreibt er ja selbst: „Eine Handlung kann normativ nur empfohlen […] werden, wenn ihre Ausführung auch empirisch möglich ist“ (Peters 277). Dazu kritisch: Diese können auch ohne Realisierbarkeit eingefordert werden (siehe die Anmerkung), man denke nur an Inquisitionspraktiken. Es schwingt also eine gewisse Handlungsrationalität mit, die wohl ebenfalls durch ein „Soll?“ zu hinterfragen ist.
Ich finde SWs Idee eines post-positivistischen Dialogs nicht allzu abwegig. Zwar geht es ebenfalls um Realitätsaussagen, doch ist klar, dass diese ihren ontologischen Charakter nie entbehren. Vorgehen, wie der Retroductive Circle (Glynos & Howarth) scheinen an der Bipolarität zu kratzen. Ich frage mich bei der Zielrichtung von „Theorie“, ob nicht Handlungsanweisungen eine ideelle Vorstellung sind. Kann nicht jede Theorie als Handlungsanweisung genutzt werden, nicht jeder diese dafür aber verwerten?
Hallo,
da ich im Moment nicht allzu viel Zeit habe, mich ausführlich mit dem Text zu beschäftigen, nur ein Grundgedanke nach Lektüre der Posts hier und des Peters-Textes: Wenn man über das Verhältnis von Empirie und Theorie spricht, können dann wirklich pauschale Aussagen über dieses Verhältnis getroffen werden? Zum Beispiel in der Form, dass alle Theorien bzw. theoretische Texte einen empirischen Bezug haben oder zumindest empirische Überprüfbarkeit ermöglichen sollen. Ich finde es zwar prinzipiell auch nicht verkehrt, wenn theoretische Texte sich auf empirisch nachvollziehbare Fakten beziehen oder von ihnen sich ableiten lassen. Aber eine Theorie der Wahlentscheidung (die man auf Basis von quantitativen Wählerbefragungen herleiten kann) und eine normative Theorie der Gesellschaft wie von Habermas oder auch Marx können m. E. schwer in einen Topf geworfen werden. Peters schrieb ja auch von Theorien mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad. In der politischen Theorie gibt es ganz verschiedene Textsorten, z. B. auch Reden (Burkes Rede an die Wähler von Bristol) oder Theorien politischen Wandels, bei denen es um Vorschläge einer gerechteren, demokratischeren etc. Ordnung geht. Da kann schlecht ein empirischer Bezug verlangt werden, da geht es dann eher um subjektive Wertüberzeugungen, die der Leser entweder teilen oder aus darzulegenden Gründen ablehnen kann. Irgendwo wird dann die politische Theorie/Politikwissenschaft selbst politisch und kann keine neutrale/objektive Position einnehmen – meine ich.
Erstmal Danke für die Einleitung zum Text, SW. Das Verhältnis von Normativität und Empirie, das Peters anspricht, ist ein sehr zentrales der politischen Theorie – gerade im Hinblick auf Vorwürfe des normativen Bias oder des fehlenden Praxisbezuges von Theorie.
Ich möchte hier als erstes kurz darauf eingehen, was Peters unter diesen Begriffen versteht. Unter normativen Aussagen werden Anweisungen, Bewertungen, Aussagen über Verhältnisse verschiedener Werte und Begründungen verstanden (275). Empirische Aussagen hingegen sind „Behauptungen, dass etwas der Fall ist, oder wie es sich verhält“, die mit Wahrheitsansprüchen verbunden sind (275). Mit dem Begriff Praxis hingegen meint Peters die gesellschaftliche Alltagspraxis, die sowohl der empirischen als auch der normativen Gesellschaftstheorie entgegensteht (275).
Dem Schluss, den Peters zum Ende zieht, dass Sozialwissenschaftler nicht als höherwertige Experten in Alltagsfragen zu sehen sind, stimme ich insofern zu, als dass ich den Rekurs auf einen unhinterfragbaren Experten in der hier weit verstandenen politischen Sphäre als problematisch empfinde.
Aber um zurück auf das Verhältnis von Normativität und Empirie zu kommen, so möchte ich mich hier Omn1 anschließen und vielmehr die Differenz von Theorie/Empirie in den Vordergrund rücken. Peters selbst weist darauf hin, dass Empirie nicht frei von Normativität ist und dass auch normative Elemente im Alltag immer mit eingewoben sind. Dass also Theorie normativ ist, Empirie und Alltagspraxis jedoch frei davon sind, kann meines Erachtens verworfen werden.
Mir drängt sich dabei die Frage auf, warum man dann doch fast immer von einem ‚wirklicheren‘ Status empirischer Aussagen ausgeht als bei theoretischen Überlegungen.
Daran schließt auch die Thematik des Vorwurfes der ‚unpraktischen Theorie‘ an, die Omn1 anspricht. Ich denke, eine mögliche Erwiderung ist der eben erwähnte Aspekt, den Peters selbst nennt, nämlich jener, dass Empirie und Praxis selbst nicht frei von Normativität sind – zudem, dass Theorie – natürlich abhängig von der jeweiligen – vielleicht nicht so sehr auf ‚kleinteilige‘ Probleme eingeht, wie es evt. ein Policypaper tut, dafür nachhaltiger und tiefgehender hinterfragt und nach Antworten sucht. Man könnte die Politische Theorie dabei als eine Art ‚Grundlagenforschung‘ verstehen.
Das Gegensatzpaar Theorie/Empirie erscheint mir allgegenwärtig – die Verbindung der beiden, um den Gegensatz Normativität/Empirie aufzuheben, insofern schwierig. Meist wird das eine ’nur‘ als Hilfsmittel des anderen herangezogen: Empirische Arbeiten benötigen einen theoretischen Rahmen, der gezwungenermaßen vorangestellt wird; theoretische Gedanken ziehen empirische Anhaltspunkte als Beispiele heran. Zwar findet offensichtlich eine Verschränkung statt – wie FM schreibt -, und doch wird fest an dieser Dichotomie festgehalten und oft fast schon ein Glaubenskrieg gegeneinander geführt. Eine Aufhebung dieser Zweiteilung scheint mir deshalb nicht sehr wahrscheinlich. Zwar scheint die qualitative Forschung – wie SW zum Schluss anmerkt – eine Art Mittelweg darzustellen, es stellt sich aber die Frage, ob dabei die Dichotomie aufgehoben wird oder ob es doch einen Versuch der Quantifizierung von Theorie darstellt, um auf die ‚Wirklichkeit‘ zuzugreifen, und damit dem gleichen Paradigma der Empirie folgt, das der Theorie entgegensteht.