Zeitkrise im politischen Raum und die verlorene Demokratie

Am vergangenen Dienstag lud die Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit dem Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Vortrag „Auf der Suche nach der verlorenen Demokratie – Die Zeitkrise im politischen Raum“. Referent war der Professor für Allgemeine Soziologie Hartmut Rosa von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der mit seiner zeitdiagnostischen Beschleunigungstheorie auch in überregionalen Medien bekannt wurde. Seiner Beobachtung nach haben wir es mit einer stetig beschleunigenden Moderne zu, in der alles und jeder immer schneller geht bzw. gehen muss (gehen im übertragenen Sinne). Und dieses Beschleunigungsphänomen hat auch (negative) Konsequenzen für unsere vermeintliche Demokratie. Die Frage des Abends lautete: Ist die repräsentative Demokratie zu langsam für die globalisierte Welt mit ihrem rasanten ökonomisch-technischen Fortschreitenden? Nach der These von Rosa hinkt das politische System anderen gesellschaftlichen Systemen zeitlich hinterher, und diese Desynchronisation führe dazu, dass die Demokratie die an sie gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen nur noch begrenzt erfüllen kann und die Bürger politisch entfremdet werden. Kurz gesagt: Die Moderne ist die Lokomotive, die die langsame Kröte Demokratie überfährt. Zeitkrise im politischen Raum und die verlorene Demokratie weiterlesen

Offene Textrunde (IV) – Henning Schmidgen über Wissenschaft. Das Labor als Archiv und Maschine.

Zwischen unterschiedlichen Forschungsfelder, die im Überblickswerk „Poststrukturalistische Sozialwissenschaften“ dargelegt werden, findet sich auch ein Abhandlung zu Wissenschaft, was zunächst wie eine metatheoretische Abhandlung scheint…

Henning Schmidgen bemüht sich zu Beginn des Aufsatzes um eine Darstellung dessen, was sich wissenschaftsphilosophisch seit zweihundert Jahren entwickelt hat. Er schildert zwei miteinander verwobene Perspektiven: Wissenschaft als Konstruktion von Theorien, basierend auf Beobachtungen; als auch das Ableiten der Wirklichkeit aus solchen Theorien (Schmidgen 2013: 450). Unter Bezug auf Thomas Kuhn und Rudolf Carnap zeichnet er so ein dualistisches Bild zwischen Positivismus und Antipositivismus; Elementarismus und Holismus, etc. – geeint in einer Verbindung von Mikro- und Makroperspektive (Ebd.: 450). Offene Textrunde (IV) – Henning Schmidgen über Wissenschaft. Das Labor als Archiv und Maschine. weiterlesen

Porträt „Jacques Derrida oder Der Mut zum Denken“

Gut, dass es runde Geburts- oder Todestage gibt? Jedenfalls sind solche Jubiläen für Fernsehsender wie Arte Anlass, auch dem einen oder anderen Philosophen ein wenig Sendezeit zu widmen. Zum zehnten Todestag von Jacques Derrida sendet Arte zu später Stunde ein Porträt des französischen Philosphen, „der mit der Dekonstruktion als Konzept neue Lektüre- und Analyseverfahren von Texten prägte und dabei den Mut zum Denken forderte“ (arte.tv).

„Jacques Derrida oder Der Mut zum Denken“, heute 0:00 Uhr bei Arte (53 min.), danach auch in der Mediathek.

„Klassiker sein oder nicht sein, ist das hier die Frage?“ Tagungsnotizen zur Göttinger Theorie-Herbsttagung der DVPW

Von Stefan Wallaschek, Tobias Heinze und Frederik Metje

Die Herbsttagung der DVPW-Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ fand vom 16. bis 18. September an der Uni Göttingen statt und wurde durch die Professoren Samuel Salzborn und Walter Reese-Schäfer organisiert. Thema der Tagung war „‘Die Stimme des Intellekts ist leise‘. Klassiker/innen des politischen Denkens abseits des Mainstreams“. Hierzu fanden sich etwa 80 Interessierte in Göttingen ein, um dem bunten Programm zu folgen.

Doch wie, so Reese-Schäfer, lässt sich überhaupt bestimmen, wer Klassiker_innen-Status hat. Warum werden Werke zu Klassikern und welche Exklusionsmechanismen für andere Denker_innen und deren Werke folgen daraus? Können also Klassiker_innen abseits des Mainstreams bestehen oder macht nicht vielmehr der Mainstream sie zu eben diesen? Der erste Vortrag, gehalten von Marcus Llanque (Augsburg), widmete sich dann auch eben diesen Fragen. „Klassiker sein oder nicht sein, ist das hier die Frage?“ Tagungsnotizen zur Göttinger Theorie-Herbsttagung der DVPW weiterlesen

Offene Textrunde (III): André Gorz: Strategie der Arbeiterbewegung

Mit André Gorz betreten wir ein theoretisches Feld, das meiner Wahrnehmung nach gegenwärtig kaum noch nennenswerte Beachtung geschenkt wird. Bei Gorz haben wir es mit einem Autoren aus dem Umfeld von Jean-Paul Sartre zu tun, also einem Anhänger der Existentialphilosophie und des Marxismus, der sich im Gegensatz zu den Anhängern des von ihm kritisieren Parteimarxismus nicht scheut, die Lehren von Karl Marx zu überdenken oder auch zu verabschieden (Siehe Gorz 1980). Seine theoretischen, existentialistischen Grundannahmen sind eng mit seiner Biografie verbunden. Darauf möchte ich hier nicht en detail eingehen (vgl. dazu Krämer 2013 und Schafroth 2008), bemerkenswert ist aber u. a., dass Gorz unter zwei verschiedenen Namen publizierte (als Michael Busquet die journalistischen Texte, als André Gorz seine theoretisch-philosophischen Schriften) und dass er aufgrund der unheilbaren Krankheit seiner Frau den gemeinsamen Freitod wählte. Die Themen seiner Texte sind sowohl arbeitssoziologischer, politischer, ökologischer als auch sozialphilosophischer Natur.

Der von mir ausgesuchte Text „Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus“ ist genau 50 Jahre alt. Er steht exemplarisch für das praxisphilosophische Gesamtwerk von Gorz, der eigentlich in allen seinen Werken Antworten auf die Frage sucht: „Was hindert die Menschen zu sich selbst zu kommen, d. h. die bewußten Subjekte ihrer Handlungen zu werden und sich durch diese allseitig zu entfalten?“ (DGB-Bundesvorstand 1984: 20) Die Antworten, die Gorz gibt, haben in den 1960er bis 1980er Jahren die sozialen Bewegungen, von den 68ern über ökologische bis zu linken Gewerkschaftsbewegungen, angeregt und Anfang der 1970er sogar die politische Programmatik der Jusos und des Studierenverbandes SDS beeinflusst. Warum das Interesse an Gorz spätestens Ende der 1980er schwand, soll hier nicht erörtert werden. Meine These lautet, dass Gorz’ theoretischen Schriften mehr Aufmerksamkeit der gegenwärtigen emanzipatorischen Linken verdienen, da sie eine dem modernen Kapitalismus angepasste neomarxistische Theorie anbieten, die zugleich selbstkritisch mit den Irrtümern und theoretischen Fehlentwicklungen der im 20. Jh. dominierenden linken Strömungen (Sozialdemokratie und Marxismus-Leninismus) umgeht. Die Stärken von Gorz sind auch die auf seine eigenen politischen Ideen bezogene Selbstkritik und eine m. E. für breite gesellschaftliche Kreise verständliche Ausdrucksweise. Offene Textrunde (III): André Gorz: Strategie der Arbeiterbewegung weiterlesen