Raymond Geuss bezeichnet sich selbst als einen Anhänger des Kontextualismus. Politische Theorie und Philosophie sind deshalb bei ihm immer mit praktischen Interventionen verbunden und stehen damit in einem engen Verhältnis mit der Politik. Politik ist konkret, handlungsorientiert und ‚parteilich‘ und Geuss versteht sie als eine Kunst oder ein Können, die politische Urteilskraft verlangen: Welche Modelle, die von der politischen Philosophie formuliert werden können, in welcher Situation anzuwenden sind, welche Möglichkeiten und welche Grenzen sie aufweisen.
Als wesentliches Ziel dieses Buches nennt er die Kritik – und Geuss vertritt eindeutig die Ansicht, dass Kritik nicht positiv oder konstruktiv sein muss. Unter der Annahme der Ideologiekritik, die in einem früheren Teil dargelegt wurde, kann politische Theorie demnach die bestehende Ideologie kritisieren und Machtverhältnisse aufdecken, ohne eine klar formulierte und ausgearbeitete Alternative zu präsentieren. Im Gegenteil: Der Vorwurf an die Kritik, nicht positiv zu sein, kann als Abwehrmechanismus und als Widerstand gegen Wandel verstanden werden. Andererseits weist Geuss darauf hin, dass es verständlich sei, dass bestehende Institutionen und Verhaltensweisen oft nicht aufgegeben werden, wenn keine brauchbaren Alternativen zur Verfügung ständen, weswegen das Aufzeigen von Alternativen nützlich sein könnte, um bestehende Strukturen abzulösen. Beugt man sich jedoch der Forderung nach positiver Kritik, so lässt man die bestehenden Machtverhältnisse die Bedingungen der Kritik diktieren, ordnet sich so in die Strukturen ein und bürdet sich die Last des positiven Nachweises auf.
Zentral in Geuss Politikverständnis ist der Aspekt der Macht – ihr Erwerb, ihr Gebrauch und ihre Verteilung – wobei er an das Machtverständnis von Foucault anknüpft, der auf die Allgegenwärtigkeit von Macht in jeder Beziehung verweist, was auch das Verständnis der meisten Theorien ist, die den Dissens in der Gesellschaft in den Fokus rücken. Macht ist dabei nicht etwas rein Negatives, verdient aber durch ihre zentrale Rolle besondere Aufmerksamkeit. Demnach ist seine Kritik, zum Beispiel an Rawls, verständlich, der die Macht auszuklammern versucht und dadurch ihr Wirken verschleiert. Er würde dadurch nur ideologiebildend oder zumindest -stützend fungieren und damit bestehende Machtverhältnisse stärken. Außerdem kritisiert er die zeitgenössische Philosophie, die vom reaktionären Neokantianismus geprägt sei. Stattdessen muss sich die politische Philosophie, die mit einem ernsthaften Politikverständnis verbunden sein will, aufgrund ihrer Aufgaben (u. a. Orientierung und Leitfaden für das Handeln) zu einem realistischen Verständnis oder – wie er es nennt – zu einem neo-leninistischen Verständnis hin entwickeln. Dies soll nicht heißen, dass es ein ‚Verbot des Normativen‘ geben soll, denn Geuss anerkennt, dass normative und moralische Überlegungen in der Politik eine Rolle spielen, weist jedoch darauf hin, dass einzelne moralische Aspekte nicht das komplette politische Handeln bestimmen dürfen – denn wenn man das historische Gewordensein der Normen berücksichtigt, kann man sie nicht mehr als universell verstehen.
Er weist zudem die Angst zurück, dass das Aufgeben der ‚Ethik-hat-Vorrang‘-Verständnisses in der Politik negative Auswirkungen auf die Gesellschaft hätte. Der wertende Diskurs würde zum gesellschaftlichen Leben gehören und nicht einfach verschwinden. Die Vorrangstellung der Moral, die im Christentum entstanden sei und bis heute Bestand habe, habe nicht zu einer gesellschaftlichen Verbesserung geführt – stattdessen sei sie „ein riesiger intellektueller und psychologischer Apparat, der darauf abzielt, unsere Welt zu vereinfachen, indem er die Handlungen der Menschen in zwei dichotome Kategorien einteilt“ (S. 137). Durch das (archäologische) Aufzeigen der Entstehung der Moral hat er den ersten Schritt zu ihrer Denaturalisierung gemacht und gleichzeitig ein anderes Verständnis von Politik als Kunst und Handwerk eingeführt. Die Aufgabe der politischen Philosophie ist es nun, Theorien und Modelle bereitzustellen, an denen sich politisches Handeln orientieren kann, um in alltäglichen Situationen zu urteilen.
Fazit und Diskussion
Da dies das Abschlusskapitel ist und als Résumé nochmals viele Punkte der vorherigen Kapitel aufgreift, bieten sich vielleicht abschließende Gedanken oder Fragen zu Raymond Geuss Verständnis der politischen Theorie und Philosophie an.
Raymond Geuss hat in diesem Buch die Aufgaben der politischen Philosophie neu oder reformuliert und damit ihre Rolle für die Gesellschaft aufgezeigt. Sie kann Ideologien stützen oder durch ihre Dekonstruktion aufdecken, Orientierung und Handlungsanleitung bieten, die Welt beurteilen und für sich selbst ein Selbstverständnis entwickeln. Besonders interessant erschien mir der Aspekt der begrifflichen Innovation und ihre Wirkmächtigkeit für die Gesellschaft, wenn diese angenommen wird.
Allerdings haben sich bei mir Fragen bezüglich der Rolle der Moral aufgedrängt. Die Vorrangstellung der Moral entwickelte sich nach Geuss im Christentum und im nachchristlichen Europa. Zeigt er diese Entwicklung irgendwo genauer auf? Bzw. kann er nicht-moralische frühere Epochen davon abgrenzen? Denn einerseits anerkennt er, dass Moral bei politischen Entscheidungen situationsgebunden für einzelne politische Akteure von Bedeutung ist, und als Kontextualist betrachtet er ja Entscheidungen jeweils in ihrem spezifischen Kontext. Andererseits weist er die Moral als Richtungsweisend für ‚die gesamte Politik‘ zurück – wobei sich die Frage stellt, ob es überhaupt ‚die gesamte Politik‘ gibt und wie er von der Akzeptanz der Moral als legitimatorische Entscheidungsgrundlage im Einzelnen zur Ablehnung der Moral beim Ganzen kommt. Aus konstruktivistischer Perspektive muss man natürlich davon ausgehen, dass Moral geschichtlich entstanden und damit wandelbar und eben nicht universell und allgemeingültig ist. Andererseits brauchen politische Entscheidungen den universellen Anspruch, ‚die beste Lösung‘ zu sein, um sich legitimieren zu können. Sie müssen sich also universalisieren und als absolut darstellen – was natürlich besonders schwierig ist, wenn man sich des historischen Gewordenseins bewusst ist. So z. B. bei der Ablehnung von Sklaverei in unserer heutigen Gesellschaft, obwohl wir wissen, dass dies früher als völlig normal angesehen wurde und die Grenze zwischen Gleichen anders gezogen wurde – und trotzdem wäre eine Ablehnung dieses Verständnisses in unserer Gesellschaft heute nicht akzeptabel. Es erscheint schwierig, zwischen Moral für Einzelentscheidungen und Moral als grundlegende Richtungsweisung zu unterscheiden und zu differenzieren, wann eine normative Entscheidung gut ist und wann sie abzulehnen ist, was Raymond Geuss hier vorschlägt.
Er bindet mit seinem realistischen Verständnis der politischen Philosophie diese wieder enger an die Politik und zeigt damit ihr gesellschaftliches Potential auf. Dass sich damit natürlich auch schwierige Fragestellungen beim konkreten Fall ergeben, ist zu erwarten.
Noch ein später Kommentar für Deinen tollen Beitrag. Als erstes also nochmal ein Dankeschön. Du kommst da bei der Reflektion nochmal auf einen super Punkt, der mich auch beschäftigt hat. Ich glaube Geuss kommt da tatsächlich ein wenig in die Zwickmühle mit der Moral und der Geschichtlichkeit. Die Frage, die mir dabei kommt ist: Wenn Moral geschichtlich ist, und wir da sozusagen mitten drin stecken, nicht weil sich die Moral irgendwie göttlich ableitet, sondern aus Traditionen und gelebten Zusammenhängen, wie können wir das dann überhaupt erkennen? Oder anders gesagt, weil das bestimmt ein wenig wirr klingt, wie erkennt denn ein Geuss, dass die Moral geschichtlich (und das ganze auch noch problematisch) ist, wenn er selbst Teil der Geschichte ist? Irgendwie muss er sich ja selbst darüber erheben, oder? Ich mein, wenn man konstruktivistisch davon ausgeht, dass Moral ein historisches Produkt ist, dann ist die Erkenntnis eines Geuss vielleicht genauso historisch und ideologisch, wie er es ja den Kantianern mit der Moral vorwirft! Kommt Geuss da raus, mit seinem Neo-Leninismus und der Macht?
Ich finde die Kritik von Geuss wirklich gelungen und positioniere mich ebenso gegen den moralischen Universalismus, keine Frage. Ich denke, wie Geuss, dass Dinge nicht auf alle Zeiten oder in ihrem Wesen Gut oder Schlecht sind, und selbst wenn, ist es quasi unmöglich, das in den unterschiedlichen Kontexten immer einwandfrei zu erkennen. Geht man nur in den Supermarkt, kauft man normale Milch oder Bio – wer kann schon wirklich sagen ob das eine besser als das andere ist? Oder man spendet Geld – hilft man damit wirklich oder verfestigt man nicht sogar Strukturen, in der die Ungerechtigkeit schon angelegt ist? Geuss macht das toll, daraf aufmerksam zu machen, dass wir nicht in einer kantianischen Welt leben, in der alles immer ganz easy zu bestimmen ist.
Aber die Lösung ist ein bisschen einfach, oder? Ein bisschen Lenin-Realismus, Moral ist historisch, Macht ist wichtig – fertig. Muss Geuss sich nicht selbst zum Gegenstand seiner Untersuchung machen? Nicht als Person, aber als Inhaber dieser Erkenntnis? Das Problem ist hier doch der Begriff der Ideologie, und das nicht nur bei Geuss, sondern auch sonst, wo man ihn liest. Wenn ich sage, dies und jenes sei ideologisch, dann meine ich ja: Das ist falsch, aber man glaubt das trotzdem. Und dieses trotzdem nicht nur zufällig, weil man falsch informiert ist oder so – nein, ideologisch meint notwendig falsch! Man glaubt das Falsche, weil man das falsche glauben muss. Der Zaubertrick ist jetzt, dass Geuss das einfach so feststellen kann. Wenn etwas Falsches uns notwendig richtig vorkommen muss, wie kommt dann Geuss darauf, dass das eigentlich falsch ist? Wer hat ihm das geflüstert? Der liebe Gott, Marx, Lenin? Das frage ich mich das ganze Buch…