Was sagen politische TheoretikerInnen in Deutschland eigentlich zu gegenwärtigen Krisen wie z. B. in Syrien oder dem Ukraine-Konflikt? Nicht viel, oder?! In der Euro(pa)-Krise konnte man sich zumindest auf Jürgen Habermas verlassen, der die politik-theoretische Lanze hoch hielt und sich mit Wolfgang Streeck eine Debatte lieferte (wobei man nicht vergessen darf, dass Habermas ebenso wie Streeck eigentlich Soziologie ist, zudem noch Philosoph und damit die Politische Theorie Habermas nur bedingt für sich reklamieren darf) oder man auch auf Hauke Brunkhorst mit seinem breit diskutierten Buch „Das doppelte Gesicht Europas“ verweisen konnte. Doch ansonsten hält sich die Zunft auffällig zurück. Warum und was sind die Gründe dafür?
Eine Podiumsdiskussion am 29.01. in Bremen versuchte sich dem Thema zu nähern und im Ankündigungstext hieß es dann auch provokant: „Der politische Liberalismus in seinen verschiedenen Spielarten regiert und seine Kontrahenten sind entweder weitgehend verschwunden (Marxismus, Kommunitarismus) oder haben sich in ihrer Oppositionsrolle mehr oder minder gemütlich eingerichtet (Postkolonialismus, Poststrukturalismus). Insofern sehen wir eine friedliche Theorielandschaft in friedlosen Zeiten […].“
Die Podiumsgäste wurden wohl auch bewusst aufgrund ihrer verschiedenen theoretischen Standpunkte angefragt: Franziska Dübgen (Universität Göttingen/Lichtenberg-Kolleg), Jeanette Ehrmann (Universität Frankfurt a. M.), Regina Kreide (Universität Gießen), Peter Niesen (Universität Hamburg), Martin Nonhoff und Frank Nullmeier (beide Universität Bremen); moderiert wurde von Frieder Vogelmann (Universität Bremen).
Peter Niesen übernahm dann die ihm wohl auch zugedachte Rolle, den politischen Liberalismus (polLib.) zu vertreten und gegen Kritik zu verteidigen. Dabei verwahrte er sich gegen die zu schnelle Vereinheitlichung und unterschied einerseits polLib als eher aggressive Variante in Formen der Rechtfertigung vom ‚Gerechten Krieg‘ und andererseits als kantianischen Ansatz (im Sinne Rawls), der einen gewaltfreien und institutionellen politischen Liberalismus repräsentiere. Letzterer sei für eine internationale politische Theorie der interessanteste Weg. Frank Nullmeier ergänzte, dass Rawls eine politische Theorie in Form seiner Gerechtigkeitstheorie formulierte, die zum einen recht minimale Voraussetzungen konstruiere, die aber auf eine westlich-liberale Verfasstheit hinauslaufe. Zum anderen sich aber diese Theorie als ’neutrale Theorie‘ verstehe und dies – verständlicherweise – zu Widerspruch führe. Dies blieb dann auch tatsächlich nicht unwidersprochen und so wiesen gerade Regina Kreide und Martin Nonhoff auf die ‚blinden Flecken‘ des polLib hin: Dieser reflektiere weder seine eigene historische Situiertheit, noch denke er die materielle Dimension mit und vergessen damit die in Zeiten der Krise sehr wichtig gewordenen Klassenverhältnissen nicht mit. Ehrmann und Dübgen ergänzten diese erste Kritikrunde noch um Einwände aus der postkolonialen und feministischen Theorie. Nichtsdestotrotz und darauf verwies Frieder Vogelmann als Moderator schien keinE PodiumsteilnehmerIn den Liberalismus völlig abzulehnen, sondern die Kritik baute auf diesem auf, weil Rechtsstaatlichkeit oder Meinungsfreiheit doch liberale Errungenschaften sind, die man nicht aufgeben wolle. Vielmehr, so seine These, wolle man den „Liberalismus liberalisieren“ und ihn wieder (durch Kritik) an seine Versprechen erinnern.
Nachfolgend ging es dann eher um die Frage, inwiefern eine normative politische Theorie gleichzeitig auch Sozialtheorie sein sollte und ob sie die empirische Forschung gänzlich den anderen Teilen der Politikwissenschaft überlassen oder doch im Stile Horkheimers & Adornos beides zusammen bringen sollte. Während Niesen daran zweifelte, gleichfalls Empirie wie Theorie betreiben zu können und fragte, ob die Politische Theorie damit nicht überfordert wäre, sprachen sich v. a. Kreide, Dübgen und Ehrmann für eine stärkere Verlinkung beider oftmals getrennter Sphären aus. Wobei nicht explizit statistische Analysen gemacht werden sollten, sondern gefordert wurde, die politische Theorie wieder stärker gesellschaftstheoretisch eingebettet zu sehen, Kritik am Gegenwärtigen als Ausgangspunkt zu nehmen und die politische Theorie nicht im Turm der Moralphilosophie zu belassen (wie es häufig im Anschluss an Rawls getan wurde und wird).
Gerade Ehrmann zeigte mit Verweis auf feministische und postkoloniale Theoriebildung, dass diese aus den sozialen und Protest-Bewegungen entstanden sind und damit der Bezug zwischen Theorie und Praxis für einige Theorien elementarer Bestandteil sei. Nonhoff betonte dahingehend auch nochmal, dass man, um zu verstehen wie der polLib überhaupt zu dieser dominanten Strömung wurde, auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse bedenken müsse und damit auch immer konkret die Machtfrage gestellt werden sollte. Alle PodiumsteilnehmerInnen waren sich dann auch einig, dass der Dialog zwischen Sozialtheorie und politischer Theorie wieder intensiviert werden sollte.
Auch wenn die Podiumsdiskussion noch mehr Themen behandelte, möchte ich doch hier schließen, um zwei Gedanken zum Thema zu äußern. Zum einen blieb bei mir der Eindruck, dass sich zwar die Teilnehmenden performativ dagegen wehrten, aber schließlich, die Politische Theorie doch sprachlos blieb. Obwohl im Ankündigungstext vom Schaffen von „Orientierungswissen“ durch die Politische Theorie gesprochen wurde, verwahrte sich gerade der Vertreter der dominanten Strömung (polLib) dagegen. Aber auch die anderen Podiumsgäste versuchten diese Position nicht für sich zu besetzen. Formen der Kritik könnten zwar als solch eine Orientierung verstanden werden, doch ob man diese Position für eine feministische, radikaldemokratische oder postkoloniale Kritik wirklich beziehen mag, blieb offen. Die neueren reflexiven Theorieansätze haben ein distanziertes Verhältnis zu Begriffen wie „Orientierung“, „politische Beratung“ oder „anwendbares Wissen“ und sehen daher die Rolle des öffentlichen Intellektuellen mit Skepsis. Ihnen also vorzuwerfen „sprachlos“ zu sein und sie dann aufzufordern, ihre eigene Zurückhaltung aufzugeben, scheint schwer umsetzbar. Poststrukturalistische Ansätze reisen halt nicht mit „theoretischem leichten Gepäck“ wie ein Wolfgang Streeck in seinem breit diskutierten Buch „Gekaufte Zeit“ und damit steht die Frage nach der öffentlichen Vermittlung, oder auch ‚Übersetzung‘ dieser Theorien im Raum. Hier herrschte zwar eher (nachvollziehbare) Zurückhaltung, doch sollte diese fast schon ’selbstgewählte Stille‘ kritisch reflektiert werden.
Zum anderen scheint sich die politische Theorie als politisch zu verstehen, weil sie verschiedene Theorieströmungen ausbildete, doch vielmehr als ‚akademisch politisch‘ anstatt auch ‚öffentlich politisch‘. Politische Konflikte werden durch akademische Publikationen ausgetragen, aber nicht (mehr) auf den Meinungsseiten der Tageszeitungen und Wochenmagazine. Dies mag daran liegen, dass in Zeiten der Ökonomisierung von Wissenschaft ein Meinungsartikel in der FAZ für WissenschaftlerInnen weit weniger zählt als ein double-blind peer-reviewed Artikel in einem hochrangigen Journal. Auch die Zeit und Fähigkeit von einer teils hoch spezialisierten Wissenschaftssprache in eine journalistische ‚Schreibe‘ zu wechseln scheint knapp und kaum erlernbar; oder für manche gar wünschenswert. Und politische TheoretikerInnen sind auch in Zeiten von „ExpertInnen“ nicht mehr so öffentlich gefragt und wurden durch diese in Talkshows und in Interviews ‚abgelöst‘. Nichtsdestotrotz muss sich die politische Theorie fragen lassen, inwiefern sie selbst politisch sein will und ob sie als solche auch öffentlich wahrgenommen werden will. Welches Verhältnis hat sie zur politischen Praxis: Ist es ein inhärentes wie bei feministischen Ansätzen, ein distanziertes wie es Peter Niesen vorschlägt oder eine Mittelposition, die zwar um ihre akademische Situiertheit weiß und sich kritisch mit den gegenwärtigen Verhältnissen auseinandersetzt und ggf. auch politisch interveniert, aber nicht die politiktheoretische ‚Weisheit‘ für sich in Anspruch nimmt? Falls es letztere ist und diese erscheint mir am interessantesten, dann kann die Frage „Ist die Politische Theorie sprachlos?“ nicht mit ja oder nein beantwortet werden, sondern muss jeweils ergänzt werden um den Kontext in dem sich politische TheoretikerInnen äußern könnten oder eben sollten. Und in diesem Sinne wäre sie auch politisch und würde nicht in ‚Geschwätzigkeit‘ umschlagen, was schließlich das Gegenteil von ’sprachlos‘ ist.
Hallo SW,
nach dem Lesen deines Berichtes verfestigt sich auch bei mir der Eindruck, dass die Teilnehmer der Diskussion die Sprachlosigkeit der Politischen Theorie, die du zu Recht konstatiert hast, nicht besonders problematisieren und sich in ihr eingerichtet haben.
Wo ist das Problem? Wissenschaft, damit auch die Teildisziplin Politische Theorie, hat in meinem Verständnis den Auftrag, der Gesellschaft, vulgo Fortschritt zu dienen. Wissenschaft als Selbstzweck der Wissenschaft Betreibenden mag auch nichts Schlimmes sein, würde aber keine öffentliche Finanzierung durch die steuerzahlende Allgemeinheit rechtfertigen.
Die Gründe für die Sprachlosigkeit hast du m. E. alle aufgeführt. Einerseits wird es das Problem sein, dass die großen Zeitungen insbesonderen kritischen Wissenschaftlern kaum noch Raum für Debattenbeiträge lassen (wg. ökonomischen Interessen, Systemstabilisierung …). Andererseits bringt bzw. fördert das Wissenschaftssystem vielelicht nicht unbedingt den „organischen Intellektuellen“, der sich permanent kritisch in öffentliche Debatten einmischt. Wer stets nach Drittmitteln oder befristeten Beschäftigungsmöglichkeiten suchen muss, wird keine Zeit und keine Nerven für nebenberufliches Engagemnt in der Praxis haben, wenn er zugleich vielleicht noch so etwas wie Familie und Privatleben haben möchte.
Schließlich liegt es wohl in der Natur der Sache, dass die Persönlichekiten verschieden gestrickt sind: Es gibt Menschen, die gerne im Rampenlicht der Öffentlichekit stehen, und solche, die von ihrer Arbeit nicht gerne viel Aufhebens machen. Dass es ein Problem ist, von der komplizierten Wissenschaftssprache in „verständliches Alltagsdeutsch“ zu übersetzen, kann ich bei einigen modernen Theorien nachvollziehen – finde dies aber auch problematisch, sich eine solche Sprache/Ausdrucksweise überhaupt anzugewöhnen. Gehörte zu einer guten Hochschuldidaktik nicht auch, dem wiss. Nachwuchs verständliche Ausdrucksweisen beizubringen?
Wissenschaft sollte der Gesellschaft dienen und deswegen sollte oder kann so eine Sprachlosigkeit nicht einfach n festgestellt werden ohne dem Hinweis, dass mit der Aufgabe der Sprache auch eventuell eine Aufgabe der Verantwortung einhergeht. Somit verbleiben große Tageszeitungen im journalistischen ohne den Aussagen Bewertungen Einschätzungen politischer Theoretiker. Besonders bei der Ukraine Krise ist hier doch eine Lücke entstanden, die schnellstmöglich gefüllt werden müsste.