Der konstruktivistische Ansatz versteht sich als Antipode zu einem essentialistischen Verständnis und hebt einerseits die Vielstimmigkeit der Theorien hervor und weist im Falle der Kultur auf die Vielzahl ihrer Deutungen hin. Bei der gemeinsamen Tagung, organisiert von Renate Martinsen und Wilhelm Hofmann, steht das Verhältnis von Kultur und Politik im Zentrum, wobei das nicht Offensichtliche der Politik aufgedeckt werden soll. Gefragt wird danach, wer spricht und wie verglichen wird. Wie wird Politik heute beobachtet und wann wird auf kulturelle Formen verwiesen?
Ein Tagungsbericht zur Tagung ‚Die andere Seite der Politik. Theorien kultureller Konstruktion des Politischen‘
Gemeinsame Tagung des DVPW-AK Politik und Kultur und der DVPW-Themengruppe Konstruktivistische Theorien der Politik von 07.03. – 08.03. an der TU München
von Clelia Minnetian
Die Schwierigkeit des Kulturbegriffes zeigt sich in der relativ unbestimmten Verwendung als Restekategorie und in den überaus verschiedenen Ansätzen. Meist wird Kultur als etwas Historisiertes begriffen; sie kann dabei ein Horizont der Selbstbeschreibung sein, im Zusammenhang mit Identitätsproblemen stehen oder ein typisches Moment der Moderne darstellen. Seit der kulturalistischen Wende findet zunehmend eine Distanzierung von der funktionalistischen Konzeption von politischer Kultur als Einstellungsvariable statt. Stattdessen wird auf ein tieferes Verständnis von Gesellschaft, Kultur und ihren Kontext eingegangen, wie Wolf J. Schünemann und Reiner Keller in ihrem Vortrag betonten. Auch Jan Christoph Suntrup wies auf das Überindividuelle von Kultur hin, weshalb die soziale Praxis, Narrative und organisatorische Elemente als kulturelle Konstruktionen beschrieben werden können – oder nach Reckwitz als hochspezifische konstitutive kulturelle Codes. Durch eine Beobachtung zweiter Ordnung kann Einsicht in ihre Kontingenz erlangt werden, wie Suntrup am Beispiel der Rechtskultur aufzeigt. Damit finden eine Verschiebung der Analyse von der Mikro- zur Meso- und zur Makroebene und eine Öffnung hin zu Körpern, Architekturen, Alltagspraktiken und Medien bezüglich Weltsichten, Symbolen und Regierungstechniken statt.
Alexander Hirschfeld und Vincent Gengnagel wiesen in ihrem Vortrag auf den zentralen Aspekt der Vermachtung in den kulturalistischen Ansätzen hin und betonten dabei die latente Dimension, da gerade scheinbar unproblematische kulturelle Konstruktionen konstitutiv für soziale Sedimentierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse seien. Gleichzeitig formulierten sie den Vorwurf eines politischen Bias bei vielen Theorien, die Politik oft da suchen würden, wo sie früher einmal sichtbar gewesen war und sie damit mit einer Entpolitisierung des vormals Politischen zusammenbringen. Macht ist jedoch meist da am wirksamsten, wo sie nicht vermutet und beobachtet wird, weshalb der bereits im Call for Papers formulierte Auftrag, das nicht Offensichtliche der Politik aufzuzeigen, als Leitsatz dienen kann. Zudem wird meist von einem dissensualen Verständnis von Politik oder dem Politischen ausgegangen, wie z. B. bei Rancière, der im Zentrum des Verhältnisses zwischen Politik und Ästhetik den politischen Streit und damit die Kontingenz von politischer Ordnung sieht, wie Nina Eggers in ihrem Vortrag aufzeigte. Immer dann, wenn ein neuer Teil einen Platz einfordert, wird die bestehende Ordnung in Frage gestellt. Mit dieser Distanzierung von einem liberalen Politikverständnis als Problemlösungsinstrument verschiebt Rancière das Politische in den kulturellen Bereich, wo sich Politik als Streit um Wahrnehmungsweisen in kulturellen Praktiken zeigt.
An den Beiträgen der Tagung wird deutlich, dass sich zwei Perspektiven der konstruktivistischen Theorie besonders gut für die Analyse von Kultur und ihrem Verhältnis zum Politischen eignen: Einerseits die Foucaultsche Perspektive, aus ihr entstandene Diskursanalysen, Ansätze der Hegemonietheorie und die Cultural Studies; andererseits die systemtheoretische Perspektive, die Kultur als Beobachtung zweiter Ordnung von sozialen Systemen begreift, die dadurch Möglichkeiten zur Selbstreflexion erlangen.
Zur ersten der beiden Perspektiven betrachtete Hans-Martin Schönherr-Mann die kulturelle symbolische Einheit nach Cassirer im Verhältnis zur Mikrophysik der Macht nach Foucault – mit Bezug auf politische Entscheidungen. Er ging der Frage nach, welches dieser beiden verschiedenen Verständnisse von Politik und Kultur – ob der direkte Einfluss auf politische Entscheidungen nach Cassirer oder die indirekte Veränderung gesellschaftlichen Denkens nach Foucault – stärker wirkt. Cassirers Ansatz scheint dabei leichter umsetzbar zu sein – Foucaults Ansatz wirkt eher langfristig durch den Einfluss einer sich verändernden politischen Kultur. Betrachtet man z. B. das heutige skeptische Verhältnis gegenüber Autoritäten, das sich über Jahrzehnte hinweg über eine Veränderung der politischen Kultur entwickelt hat, scheint sich Foucaults Ansatz zu bestätigen. Nach Cassirer ist es die Aufgabe der Philosophie, in die Politik einzugreifen, indem Vorschläge zur Gestaltung von Politikmodellen formuliert werden – Foucault hingegen analysiert den Staat auf der mikrologischen Ebene der Klinik, des Gefängnisses oder der Schule als Teil der politischen Kultur (und nicht des Politischen). Das Aufzeigen dieser Gouvernementalität durch eine archäologische Untersuchung zielt auf das Bewusstsein von Individuen – hin zu einer Parrhesia oder einer Ethik der kritischen Haltung.
Auch Hagen Schölzel knüpfte an Foucaults Verständnis des Widerstandes an und zeigte an einer Re-Lektüre des Konzeptes der ‚Kulturellen Grammatik‘ nach dem Handbuch der Kommunikationsguerilla auf, dass diese Kulturelle Grammatik als ein unbewusst befolgtes Regelsystem verstanden werden kann, das gesellschaftliche Beziehungen prägt, Normalität etabliert und mit Foucault gedacht als die Ordnung des Diskurses verstanden werden kann. Durch eine kommunikative Praktik der Regelverletzung durch ‚deviante Akteure‘ können diese Regeln aufgezeigt, hinterfragt sowie Alternativen formuliert werden. Das Politische ist damit der Konflikt um die verschiedenen Ordnungen und somit in seiner Pluralität und Dynamik denkbar.
Schünemann und Keller bauten ihre Überlegungen aus diskursanalytischer Perspektive nach der Wissenssoziologischen Diskursanalyse auf. Am Beispiel Frankreichs, der Niederlande und Irlands zeigten sie den gelebten Nationalismus mit Bezug auf die konstitutionelle Reform auf europäischer Ebene zur Vertiefung der Integration auf. Sie fragten danach, welche Akteure sich nationalistischer Deutung bedienen und wie sich diese niederschlägt, welche identitätsstiftenden Narrative aktualisiert werden und wie sich souveränistische Argumentationen unterscheiden.
Mit dem Konzept des narrativen Nationalismus soll die Nation als gesellschaftliches Produkt entlarvt werden, wobei unter den Begriff des strukturalen Nationalismus dann die unbewusste, alltägliche Verfestigung der Nation fällt. Doch obwohl die Nation konstruiert ist, fördern moderne Nationalstaaten nationales Wissen, und entsprechend ist die Nation als solche wirkmächtig. Dagegen kann man den programmatischen Nationalismus als ein explizites Programm zur Förderung und Überhöhung der Nation verstehen, das negative Auswirkungen wie Fremdenfeindlichkeit zur Folge hat. Dazwischen befindet sich der narrative Nationalismus, der die Nation aktualisiert und fortschreibt – und im Fokus ihres Interesses steht. Er stellt sich gegen die passive Erzählung des europäischen Superstaates und will Liebgewonnenes und Erhaltenswertes schützen. Beispiele für eine solche passive Erzählung wären Darstellungen, bei denen Frankreich symbolisch durch die EU erwürgt wird, die Niederlande von der europäischen Landkarte verschwinden oder Irland wieder zu einer Provinz wird. Interessante Ergebnisse sind, dass das tradierte Nationale dabei oft mit der Demokratie verbunden wird, um der EU, der man ein Demokratiedefizit attestiert, gegenübergestellt zu werden. Zudem werden diese Narrative nicht nur von politisch Extremen geäußert, sondern kommen auch von gemäßigten Akteuren und werden ebenso von den Befürwortern der europäischen Integration angeführt. Denn bei der Forterzählung solcher Narrative wird Wirklichkeit geschaffen, indem eine Verknüpfung von Argumenten vorgenommen wird und nicht die Logik der Argumentation im Vordergrund steht.
Der zweite thematische Schwerpunkt der Tagung lag auf einer systemtheoretischen Perspektive. Jörn Knobloch verband Überlegungen von Luhmann mit Ansätzen der Kulturtheorien und stellte damit Luhmanns strenge Differenzierung von funktionalen Logiken und die ideale Separierung von sozialen Sphären der Vermischung und der Expansion des Kulturellen gegenüber. Obwohl Knobloch an Luhmann anknüpft, sieht er den Vorteil der Kulturtheorien in ihren analytischen und normativen Möglichkeiten. Beide seien jedoch keine essentiell politischen Theorien, da die Politik nur ein Teilsystem oder ein Teilbereich kultureller Praktiken sei und deshalb erst über eine Fokussierung auf das Normative beide Ansätze erschlossen und verglichen werden können. Er wies jedoch darauf hin, dass es dabei um politische Konstruktionen von Kultur gehe und nicht um eine kulturelle Konstruktion des Politischen; die Grenzrelativierung und -erhaltung in konstruktivistischen Ansätzen seien politisch begründet, weswegen ein eigenständiger Begriff des Politischen entwickelt werden müsse. Knobloch konzipiert das Politische als Ordnung, wobei die Normativität des Politischen eine raumzeitliche und gesellschaftliche Konstruktion sei, die prozessual entstehe und eine ordnungsbildende Funktion habe. Ordnung sei demnach als ein Zustand, Prozess oder Modus zu verstehen, der die Einheit bildet. In der anschließenden Diskussion wurde über den Zusammenhang von Kultur und Ordnung diskutiert, wobei Kultur nach Knobloch im Sinne der Kulturtheorie als eine Ansammlung von Wissenselementen als Ordnung gebildet werden kann; dem wurde jedoch entgegengesetzt, dass dies auf ein zu statisches Verständnis von Kultur verweisen würde, die als etwas Dynamisches zu verstehen sei.
Weitere systemtheoretische Ansätze kamen von Michaela Zöhrer und Werner Friedrichs. Zöhrer argumentierte nach Stäheli für eine Aufwertung der Semantik in der Luhmannschen Systemtheorie mit kulturalistischer Ergänzung für die empirische Forschung. Dort widmet sie sich der Erforschung von NGOs und weist auf die Verwischung deren binärer Einteilung von politisch und humanitär hin. Semantiken versteht sie nicht mehr nur als Ausdruck der Struktur, sondern sie seien ebenso für deren Herausbildung und Reproduktion essentiell. Friedrichs Interesse hingegen liegt in der didaktischen Forschung, und er ging dabei Überlegungen zur Unterscheidung von Politik und Kultur bei Luhmann nach und fragt nach dem Politischen bei der politischen Bildung. Dazu möchte er einen eigenständigen Begriff von Politik und politischer Bildung entwickeln und schlägt vor, Politik als diejenige Kommunikation zu bezeichnen, die die Unterscheidung Konsens/Dissens vornimmt, um den Begriff damit an das Politische anzuschließen, das den Raum vor der Einrichtung dieser Unterscheidung bezeichnet – und bezieht sich auf das Konzept der Hegemonietheorie.
Holger Zapf befasste sich mit Gründen und Bedingungen für kulturspezifische Plausibilisierung als Strategie zur Begründung politischen Denkens. Dabei stellte er zwei Sichtweisen zur transkulturellen Analyse heraus: Die erste sieht die politische Theorie von kulturellen Merkmalen durchdrungen und determiniert – so wird in einem solchen Diskurs der Islam beispielsweise als unvereinbar mit westlichen Werten verstanden. Die zweite Perspektive versteht die politische Theorie als Konstrukte, die von den jeweiligen Protagonisten und selektiv von der Kultur als einem ambivalenten und historisch fluiden Referenzrahmen abhängen – die Vereinbarkeit des Islams wäre von der Konstruktionsleistung der Akteure abhängig. Der Nachteil der ersten Perspektive liegt in ihrer Undifferenziertheit und in der Gefahr, für politische Zwecke instrumentalisiert zu werden. Der zweite Ansatz ist zwar differenzierter, aber er unterliegt dem Paradigma ‚anything goes‘. Zudem kann sie Machtbeziehungen nicht transparent machen, in deren Verhältnis Konstruktionen betrachtet werden müssen, die niemals in einem luftleeren Raum stattfinden. Zapf kommt zu dem Schluss, dass je stärker Kultur wahrgenommen wird, der Verweis auf partikularistische Argumente umso stärker erfolgt und Kultur dabei als eine kognitive und normative Orientierung zu betrachten ist. Zudem kommen noch weitere Faktoren bei der Bildung von politischen Theorien hinzu – wie z. B. das akademische Feld oder die Persönlichkeit. Als Konsequenz muss Kultur als ein Kontinuum zwischen diesen beiden Polen verstanden werden, das von den kulturellen Bedingungen abhängt. Dabei wird eine explizit partikularistische Argumentation angeführt, wenn Kultur nicht prägend ist – eine implizit partikularistische Argumentation, wenn Kultur stärker wirksam ist und dabei nicht hinterfragt wird – was zu paradoxen Ergebnissen führt.
Die Tagung zeigte insgesamt eine große Spannbreite an konstruktivistischen Perspektiven in Bezug auf Kultur und Politik und ihr wechselseitiges Verhältnis auf. Im Anschluss an die Diskussion über Statik oder Dynamik von Kultur stellt sich die Frage, ob eine zwar kontingente, aber doch sehr stabile politische Ordnung im Sinne Luhmanns überhaupt verändert werden kann und damit der von Hirschfeld und Gengnagel formulierte Vorwurf an die herrschaftskritischen Theorien zutrifft: ‚reine Rückzugsgefechte zu führen, weil die Welt so nicht einfach verändert werden kann und auch nicht wird‘?; oder ob auf der anderen Seite die Hoffnung einer Parrhesia im Sinne Foucaults besteht und Orte des Widerstandes geschaffen werden können, und die Versuche der sozialen Protestbewegung entgegen ‚einer kulturellen Grammatik‘ durch deviante Handlungen wirksam sind. Auch wenn Transformationen nicht sofort stattfinden, so vielleicht doch im Sinne Foucaults über eine langfristige Veränderung der politischen Kultur.