Über das kritische Potential der Gegenwartsliteratur wird zur Zeit vielerorts diskutiert. So widmet die analyse & kritik sich dem Thema der ‚Ästhetik des Widerspruchs – Über Literatur im Kapitalismus’, während der britische Autor Tom McCarthy im Guardian gleich über den Tod des (kritischen) Schreibens sinniert. Ingar Solty und Enno Stahl veranstalteten in Zusammenarbeit mit der Rosa Luxemburg Stiftung gleich eine Literaturtagung zum Thema ‚Richtige Literatur im Falschen?’: Angesichts der krisenhaften Entwicklungen mit globaler Reichweite, die im Spannungsfeld von Demokratie und kapitalistischer Wirtschaftsordnung verhandelt werden, diskutierten dort renommierte Schriftsteller_innen wie Kathrin Röggla, Raul, Zelik, Ann Cotten oder Thomas Meinecke über (neue) Möglichkeiten der Kapitalismus- und Systemkritik im literarischen Schreiben.
Die Antworten auf die schwierige Fragestellung fielen allerdings hochgradig ernüchternd aus. Katja Kullmann zu Folge sei bei weitem kein Manifest verfasst worden. Stattdessen seien die zwei Tage „mit Zweifeln, Selbst-, Fremd- und Gesamtzweifeln” gefüllt gewesen. Schließlich bewegen sich die Autor_innen stets in jenen gesellschaftlichen Strukturen, die zu kritisieren wären, was die Möglichkeit souveräner Kritik unterläuft. Dies gilt weiterhin für Verlage, Redaktionen, Rezensierende und Lesende. Denn wie Wolfgang Frömberg richtig bemerkt: „Auf dem Weg zum richtigen Schreiben im Falschen liegt als erste Aufgabe vermutlich die eigene Lektüre der richtigen Texte im falschen Diskurs“. Eben dieser Diskurs überlässt die öffentliche Wahrnehmung kritischer Gegenwartsliteratur nicht dem Zufall. Und davon ist die auch Perspektive, die innerhalb dieses Beitrags eingenommen wird, nicht befreit.
Was jedoch auf den ersten Blick an die letztjährige Kritik Florian Kesslers an der jungen Literaturszene erinnert, welche sich zu bürgerlich, brav und selbstreferentiell gäbe, wird letztlich von neueren Veröffentlichungen kontrastiert, die mit dem Label des social turn gefasst werden können. In Werken wie Clemens Meyers ‚Im Stein’, Verena Günters Debut ‚Es bringen’ oder dem Band ‚Randgruppenmitglied’ von Frédéric Valin geraten marginalisierte und prekäre soziale Verhältnisse in den Vordergrund. Über die Nennung und Einordnung dieser Veröffentlichungen kann im Detail wiederum gestritten werden. Ebenso wären mit Blick auf vergangene deutsche wie internationale Publikationen sicherlich einige weitere hinzuzufügen.
Die Existenz dieser und weiterer Veröffentlichungen allein vermag allerdings kein Allheilmittel für die grassierenden Zweifel angesichts der Möglichkeiten einer literarischen Kritik am Kapitalismus zu sein. Viel mehr verlagert sie die Problemstellung über den Einwand Kesslers und den social turn hinaus. Was es gegenwärtig bedarf, scheint eine politische Populärliteratur zu sein: Kritische Werke, „die sich nicht auf stilistische Virtuosität konzentrieren, sondern auf ihre Erkundungs- und ihre Übersetzungsqualität”. Ohne das Plädoyer Elke Brüns für eine literarische Auseinandersetzung mit sozialen Verhältnissen entkräften zu wollen, könnte es gerade die politische Wendung dieser Auseinandersetzungen sein, die kritisch-emanzipatorisches Potential bietet.
Was meint jedoch eine politische Wendung und überhaupt: Was hat das alles mit politischer Theorie zu tun? Freilich soll damit nicht die Forderung verbunden sein, Theoretiker_innen mögen bitte Romane schreiben oder Schriftsteller_innen Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften publizieren. Den jeweiligen Professionalisierungstendenzen zum Trotze mag ein reger Austausch, ja ein gegenseitiges Interesse jedoch fruchtbare Konsequenzen tragen. Denn wenn das literarische Schreiben heute „im Schatten allgegenwärtiger und allwissender Datenmengen steht, welche jede Ahnung des Autors, er habe uns über etwas in Kenntnis zu setzen, ad absurdum führt”, kommt es tatsächlich darauf an Narrative zu entwickeln, die über die Beschreibung des Sozialen hinausgehen. Es gilt Fakten und Fiktion näher zusammenzubringen, indem die Beschreibung sozialer Verhältnisse mit alternativen Ordnungsvorstellungen und Gedankenexperimenten in Berührung gebracht werden. In den Worten von Solty und Stahl aus dem Positionspapier zur Berliner Tagung wird diese Forderung wie folgt formuliert:
„Damit nicht genug muss die Literatur Menschen zeigen, die dagegen angehen, die das alles nicht mehr mit sich machen lassen, die ihre Würde bewahren und sich dem scheinbar Unaufhaltsamen entgegenstellen, die ihre persönlichen Fluchtwege finden und damit Beispiele geben mögen für viele andere. […] Die Literatur muss solche Figuren kreieren, um sie in ihren Lesern wiederzufinden, denen muss sie ein gutes Gefühl geben, den Nachweis der Richtigkeit ihrer Entscheidung führen und ihnen so Wortmunition an die Hand geben, ästhetische Energiekapseln für neue Entwürfe, Kampf- und Lebensformen.”
Politische Theorie und Philosophie bieten sich als Quellen und Werkzeugkästen für derartige Figuren und Entwürfe geradezu an. Zugleich könnten eben jene ästhetischen Formen der (normativen) politischen Theorie aus ihrer Sprachlosigkeit verhelfen. Dies belegen zum einen Zeitschriften wie n+1 oder polar, die Literatur, politische Gesellschaftsreflexion und Kritik im Rahmen der jeweiligen Ausgaben gekonnt miteinander verbinden. Zum anderen wurde 2014 mit ‚Die bleichen Füchse’ von Yannick Haenel ein Roman ins Deutsch übersetzt, der trotz schweren theoretischen Gepäcks vermeintlich radikaldemokratische Theorieansätze literarisch verarbeitet und soll daher als kurzes Beispiel für eine politische Wendung des Sozialen dienen (ohne dem Inhalt des Romans im Sinne des spoilers zu viel vorweg nehmen zu wollen).
So lässt Haenel seinen Protagonisten bereits zu Beginn des Romans einen sozialen Abstieg erleben. Der 43-jährige Jean Deichel verliert sowohl Arbeitsplatz als auch Wohnung und entschließt sich daraufhin in das Auto eines Freundes zu ziehen. Aus der ungewöhnlichen Umgebung am Rande der Pariser Banlieues entfaltet sich ein neuer Blick auf das soziale Gefüge. Die neue Umgebung wird von Arbeitslosen, Obdachlosen und Flüchtlingen geprägt, also jenen die ebenso aus dem Raster der Leistungsgesellschaft herausgefallen sind. Bei seinen nächtlichen Streifzügen begegnet Deichel mysteriösen Botschaften und einem rätselhaften Symbol, das ihn auf die bleichen Füchsen stoßen lässt: Eine Untergrundbewegung der sans-papiers. die sich auf die Mythologie der Dogon aus Mali bezieht und damit ihrem Protest gegen die Ordnung der Gesellschaft Ausdruck verleiht. Deichel solidarisiert sich mit der Bewegung und wird mit der Vernichtung seines Passes Teil der bleichen Füchse, was ihn im zweiten Teil des Romans – fast in Form eines Manifests – von einem rebellischen ‚Wir’ sprechen lässt.
Dass Haenel eine großes Interesse für politische Philosophie hegt, belegt nicht nur die Mitherausgeberschaft an dem Journal ‚Ligne de risque’, sondern schon das Eingangszitat einer Notiz von Walter Benjamin: „Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung“. Diese Wanderung beginnt mit Deichels Abstieg: Die tägliche Routine zwischen dem Beifahrersitz des geparkten Autos und den Streifzügen durch die Banlieus mögen ihn untätig erscheinen lassen, aber nie ganz passiv werden. Viel mehr führt er von nun an ein Leben am Rande der Gesellschaft, das zugleich ein Dazwischen darstellt. Aus diesem ‚Intervall’ heraus beobachtet Deichel die Geschehnisse in seiner unmittelbaren Umgebung und kommt daraufhin zu einer neuen Selbstwahrnehmung, in der die Kontingenzerfahrung der eigenen Identität hervorscheint: „Ich war, ich bin, ich bleibe immer abwesend, etwas fehlt in der Konsistenz der Welt, und ich identifiziere mich mit dieser Sache, die fehlt.“ Haenel lässt seinen Protagonisten damit eine Perspektive einnehmen, die an das Denken des Außen bei Michel Foucault erinnert. So gewinnt Deichel den Blick auf den Leistungsimperativ unter der Regierung des ‚Neugewählten’ – womit wohl Nicolas Sarkozy gemeint ist – und die Konsequenz der Marginalisierung derer, die sich nicht in dieses Imperativ einordnen lassen, erst aus dem Intervall heraus. Bewusst wird damit die Tatsache, dass das soziale Gefüge je nach Ausgangsposition immer anders wahrgenommen werden kann, was die eigene Identitätsbildung einschließt. Die Selbstwahrnehmung Deichels lässt demnach an den poststrukturalistisch gewendeten Lacanschen’ Subjektbegriff etwa bei Ernesto Laclau denken.
„Irgendwann kommt der Moment, wo es keiner mehr aushält, in einer Gesellschaft zu leben, die ihn kleinmacht; und was dann losbricht, ist kein gewöhnlicher Zorn und kleine beliebige Forderung mehr – es ist eine Ablehnung, die euren Horizont übersteigt, weil sie voraussetzt, dass ihr nicht mehr existiert.“
Die folgenden Begegnungen und Erfahrungen Deichels decken somit einerseits „die Probleme der gesellschaftlichen Ausgrenzung, der rassistisch fundierten Kriminalisierung sowie der allgegenwärtigen Demütigung von Minderheiten“ auf. Gleichwohl lassen diese Vergegenwärtigungen des politischen Klimas ihn eine neue abwesende Sache, ein neues Objekt des Begehrens finden. Und so liest sich ‚Die bleichen Füchse’ letztendlich wie eine literarische Ausarbeitung des politischen Ereignisses, das für Jacques Rancière die Essenz des Politischen darstellt. Denn im zweiten Teil des Romans durchbricht der Aufstand der Masken über die öffentliche auch die Herrschaftsordnung: Die ehemals Anteilslosen erobern sich ihren Anteil am Gemeinweisen zurück, indem sie die Pariser Straßenzüge mit einem rituellen Trauermarsch besetzen, während die Polizei mit der Situation überfordert ist. Denn dieser Marsch lässt sich ob der rituelle anmutenden Praktiken der Klage und des Protests nicht in bisherige Schemata des Protests oder der öffentlichen Aktion einordnen. Das Ereignis besteht also nicht nur in der Aneignung des öffentlichen Raumes, sondern in der Stiftung einer neuen politischen Ordnung der Solidarität, einem offnen Ereignisraum der Gleichheit: „Wir berufen uns auf die Gemeinsamkeit der fehlenden Grenzen, das heißt auf die Einsamkeit jedes Einzelnen, auf die ihr innewohnende Unbezwingbarkeit“.
Auch wenn ‚Die bleichen Füchse’ in der Verarbeitung des umfassenden Theorie-Gepäcks an einigen Stellen an Das unsichtbare Komitee oder schlichtweg platt erscheinen mag, scheint es meines Erachtens dennoch eine jener „Energriekapseln für neue Entwürfe, Kampf- und Lebensformen zu sein, die Solty und Stahl fordern. Wie oben schon angemerkt, ist dieser Beitrag allerdings nicht von zufälliger Wahrnehmung befreit. Am Ende soll daher keineswegs die These stehen, innovative, kritisch-politische Literatur käme nur aus Frankreich. Im Gegenteil bleibt die Neugierde: Welche weiteren Romane bieten sich für eine politisch-theoretische Lesart an oder sind sogar aus einer solchen Perspektive heraus entstanden? Mit diesen Fragen bitte auf in die Debatte!
Zu der von dir erwähnten Konferenz ‚Ästhetik des Widerspruchs – Über Literatur im Kapitalismus’ gibt es einen Abdruck von Aufsätzen in der Ausgabe 101 der Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung (siehe hier: http://zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/topic/75.ausgabe-101-maerz-2015.html; bei Interesse bitte eine Mail an mich). Daher freut es mich, nun auch hier über das Thema zu lesen. Es ist meiner Meinung nach außerordentlich wichtig, wenn die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend überwunden werden sollen, dass es auch Intellektuelle und also auch Schriftsteller gibt, die sich mit der emanzipativen Sache gemein machen. Die Linke ist auch deshalb so schwach, weil es zu wenige, breit rezipierte Autoren bzw. Künstler gibt, die sich den herrschenden Verhältnissen kämpferisch entgegenstellen.
Weil das so ist, kann ich kaum zu deiner letzten Frage Antworten beitragen. Ich habe zuletzt das aktuelle Buch von Dietmar Dath gelesen (Deutsche Demokratische Rechnung), das sich für eine Diskussion über Politische Theorie wenig eignet, weil es eher eine historische Abhandlung zum gescheiterten DDR-Sozialismus darstellt.
Von Clemens Meyer habe ich „Gewalten“ gelesen und muss sagen, dass sich dessen Schreibstil und seine Aufmachung des literarischen Stoffes nicht besonders gelungen finde, zumindest wenn das als gesellschaftskritische Literatur in deinem Sinne gelten soll.