Die folgenden Thesen basieren auf dieser Grundüberlegung, die aus meiner Sicht ein Konsens unter antikapitalistisch denkenden Menschen darstellt: Der Kapitalismus führt die Menschheit früher oder später in die Katastrophe, genauer: zum Untergang der Menschen entweder durch Unbewohnbarkeit des Planeten oder einen (nuklearen) Weltkrieg um völlig ungleich verteilte Ressourcen (Wasser, fossile Brennstoffe, Geldkapital …). Es ist also notwendig, das zerstörerische kapitalistische System zu überwinden und eine alternative Gesellschaftsordnung aufzubauen. Da keine bessere Alternative als die sozialistische mir vorliegt, schlage ich eine sozialistische Umwälzung vor, die aus den Fehlern und Erkenntnissen der vergangenen und gegenwärtigen sozialistischen Versuche lernt. Die hier formulierten Thesen sollen Grunderkenntnisse aus den sozialistischen Kämpfen der vergangenen 150 Jahre zusammenfassen und einen möglichst rationalen Weg zur Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems aufzeigen. Damit beanspruche ich keine Vollständigkeit, vielmehr stellen diese Thesen nur den Ausgangspunkt für weitergehendere, umfangreichere Überlegungen dar.
- Das Errichten der sozialistischen Republik kann niemals gegen den Willen der Mehrheit der Menschen erfolgen. Der Sozialismus ist demokratisch oder er ist nicht. – D. h.: Eine signifikante Mehrheit der Bevölkerung, zunächst in den einzelnen Nationalstaaten, muss mit rationalen Argumenten davon überzeugt werden, dass die bisherige Organisation der Gesellschaft nach kapitalistischer Logik in den Untergang der Menschheit führt und für ein gedeihliches Überleben der nachfolgenden Generationen andere (sozialistische) Organisationslogiken in Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern eingeführt werden müssen. Es ist wichtigste Aufgabe einer kritischen Wissenschaft, Argumente für diese These zu liefern und in allgemeinverständlicher Form der Bevölkerung, inkl. der politischen Organisationen, zu vermitteln.
- Um das kapitalistische System zu überwinden, genügt es nicht, mit mühsam erkämpften Reformen kleinere Übel dieses Systems abzumildern. Die Grundlagen des Kapitalismus, besonders der Privatbesitz der Produktionsmittel müssen grundsätzlich, radikal infragestellt und überwunden werden. 100 Jahre Sozialreformismus haben bisher elementare Menschheitsprobleme nicht nachhaltig lösen können. Es wird also Zeit, die Macht der Monopolbourgeoisie zu entreißen, indem dieser Bourgeoisie ihr Eigentum genommen und den Produzenten übergeben wird.
- Der Sozialismus kann höchst wahrscheinlich – nicht allein – auf dem parlamentarischen Wege erreicht werden. Es genügt nicht, im nationalen Parlament eine Mehrheit sozialistischer, antikapitalistischer Parteien zu erringen. Das Beispiel Griechenland und Syriza zeigt, dass viele äußere und auch innere Faktoren der Entfaltung des Sozialismus auf parlamentarischem Weg entgegenstehen: z. B: die Mitgliedschaft in der EU, in der Euro-Zone, in der NATO; das Agieren fremder Mächte auf eigenem Territorium (Geheimdienstaktivitäten, Besatzung durch ausländische Armeen). Beispiele: Chile 1973, Nicaragua 1980er, Venezuela 2002.
- Der Sozialismus muss nicht nur politisch, sondern auch kulturell durchgesetzt werden. Es genügt nicht, eine parlamentarische Mehrheit zu besitzen. Auch in wesentlichen Institutionen der Kunst und Kultur, der Wissenschaft und vor allem auch in den Medien müssen Personen vorhanden sein, die dem sozialistischen, antikapitalistischen Projekt aufgeschlossen gegenüberstehen oder es sogar aktiv-kämpferisch unterstützen. Die antikommunistische, totalitarismustheoretische Ideologie darf keine Hegemonie im gesellschaftlichen Diskurs (der Eliten) haben. Konzepte, um diese antikommunistische Ideologie, die nicht nur auf „echte“ Kommunisten zielt, sondern auf alles, was die kapitalistischen Verhältnisse infrage stellt, zu bekämpfen, müssen schon heute entwickelt werden.
- Wollen sozialistische Organisationen, eines deren Grundprobleme ihre mannigfaltige Zersplitterung ist, die Bevölkerung von der sozialistischen Gesellschaftsalternative überzeugen, sind dogmatische Debatten um die richtige Theorie und theoretische Abgrenzungen um des Rechthabenwollens kontraproduktiv. Der Kampf gegen den Kapitalismus kann nur bei größtmöglicher Einheit der antikapitalistischen Kräfte erfolgreich sein. Das bedeutet aber nicht, dass es auf theoretischem Gebiet keine Debatten um den richtigen Weg zum Ziel geben darf – im Gegenteil, nur im produktiven Streit kann der richtige Weg zum Sozialismus gefunden werden. Um in der Praxis erfolgreich zu sein, muss aber das Ergebnis der theoretischen Debatte (und diese muss ein Ergebnis haben!) von allen antikapitalistischen Kräften zunächst akzeptiert und in der Praxis umgesetzt werden.
- Unterschiedliche Bewertungen bisheriger Sozialismusversuche (Sowjetunion, DDR, China, Kuba …) sollten nicht dazu führen, dass man im Kampf gegen den aktuellen neoliberalen Kapitalismus nicht zusammenarbeitet. Historische wie theoretische Differenzen sind legitim und in einem demokratischen Gemeinwesen begrüßenswert, sofern sie nicht den Kampf gegen den gemeinsamen Feind behindern. Die Geschichte bisheriger sozialistischer bzw. sich als sozialistisch oder kommunistisch bezeichnender Bewegungen sollten kritisch, aber fair (unter Berücksichtigung der sozialen Rahmenbedingungen) aufgearbeitet werden.
- Der Beitrag der kritischen, antikapitalistischen Wissenschaft für den Kampf zur Überwindung des Kapitalismus liegt nicht allein darin, wissenschaftliche Erkenntnis und akademische Debatten zu produzieren. Sondern dieser liegt darin, den nichtakademischen Bevölkerungsschichten in konkreten Alltagskämpfen gegen die Auswirkungen des Kapitalismus (steigende Mieten, Union Busting, soziale Entrechtung im Hartz-System oder durch Freihandelsabkommen) mit verständlichem Rat beiseite stehen. Sie muss jederzeit bereit sein, den Elfenbeinturm zu verlassen und in der Praxis aktiv zu werden.
- Der Sozialismus kann nicht im Kampf vereinzelter Individuen errungen werden, der Kampf gegen die Herrschenden im Kapitalismus kann nur mittels politischer (und gewerkschaftlicher) Organisation gewonnen werden, denn die Herrschenden organisieren sich auch in ressourcenstarken Organisationen (Arbeitgeberverbände, Thinktanks, Wirtschaftsinstitute etc.), um ihre Interessen in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Parteien und Gewerkschaften müssen für ihre Mitglieder attraktiv sein und für eine spürbare Verbesserung des Lebens der Arbeiter und prekarisierten Bevölkerung sorgen. Es geht neben dem politischen Kampf für allgemeine gesellschaftliche Veränderungen auch um die Organisierung praktischer Solidarität im Alltag, d. h. bspw., dass soziale Angebote wie Suppenküchen, Kleidersammlungen, Sozialberatungen oder Tafeln nicht kirchlichen oder unpolitischen Wohlfahrtsverbänden überlassen werden dürfen.
- Die sozialistischen Organisationen müssen ein Mindestmaß an basisdemokratischer Organisation aufweisen. Das bedeutet, dass das einfache Mitglied so umfassende Mitbestimmungsmöglichkeiten (z. B. bei der Wahl und Abwahl von Funktionären, bei der Aufstellung von Partei- und Wahlprogrammen oder der Entscheidung grundsätzlicher politischer Fragen) haben muss, dass es sich wirklich als Mitgestalter der Organisation/der Partei fühlt und mit ihr identifizieren kann. Die Diktatur einer Avantgarde oder eines Politbüros, das alle politischen Vorgaben von oben nach unten durchdrückt, ist nicht zeitgemäß und wird kaum Menschen für die sozialistische Sache mobilisieren. Andererseits darf die Basisdemokratie nicht so weit getrieben werden, dass die Organisation handlungsunfähig und ineffizient wird. Das Beispiel der Piratenpartei (und der frühen Grünen) sollte lehrreich sein.
Was du hier versuchst, erscheint mir wie eh und je ein schwieriges Unterfangen zu sein. Die Leitfrage, was aus den letzten 150 Jahren zu lernen sei, führt hier sicherlich zu einigen Erkenntnissen, die man gut und gerne festhalten sollte. Allerdings bleibt mir die Stoßrichtung bisweilen unklar, da deine Thesen m.E. oftmals zwischen der Skizze eines Wegs zum Sozialismus und Vorstellungen eines sozialistischen Systems schwanken. Ohne die von dir angesprochene Spaltung weiter voran treiben zu wollen sondern um die Diskussion anzuregen hier einige Gedanken zu deinen Thesen.
Zu 1.: Sicherlich sollte der Sozialismus nur demokratisch zu haben sein. Dazu sind jedoch einige Voraussetzungen notwendig, die du in der Erklärung zur ersten These zu missachten scheinst. Eine neue demokratische Revolution zur Überwindung des Kapitalismus kann m.E. nicht in einem Verhältnis erreicht werden, in dem eine Bevölkerung _von etwas zu überzeugen_ ist. Vielleicht lese ich deine Erklärung auch falsch, jedoch klingt dies für mich stark nach einer Überwindung, der weiterhin mit der – im Kapitalismus tradierten – Differenz zwischen Vorreitern und zu überzeugenden Massen, welche in der letzten These eine Absage erteilt wird. Zu autoritären bzw. totalitaristischen Verhältnissen ist es da nicht weit.
Dies gilt insbesondere dann, wenn es die wichtigste Aufgabe der (kritischen) Wissenschaft ist Argumente _dafür_ zu liefern. Für einen möglichst rationalen Weg zum Sozialismus, den du ja einforderst, wäre die Rolle der kritischen Wissenschaft eher so zu bestimmen, wie du es in These 7 tust, wobei mir auch dort unklar ist, was es für Wissenschaftler_innen heißen soll „in der Praxis aktiv zu werden“: Geht es darum Erkenntnis im Sinne des Verstehens zu erreichen oder für _ein_ Argument zu arbeiten?
Zu 2.: Wer ist heutzutage die Bourgeoisie und was sind gegenwärtig Produktionsmittel? Und an wem liegt es im Hinblick auf meine Kritik an deiner ersten These daran dies zu definieren?
Zu 4.: In Analogie zu meiner Kritik an deiner ersten These: Wenn etwas „kulturell durchgesetzt werden“ _muss_, läuft mir schon ein kalter Schauer denn Rücken runter. Sogar rechtspopulistische Parteien haben mittlerweile verstanden, dass die Einforderung tendenziöser Kulturpolitik und dazugehöriger Maßnahmen mit wenig Erfolg gekrönt wird. Tatsächlich wäre es schön, wenn die Hegemonie des restriktiven Antikommunismus passé wäre, aber spätestens bei der Perspektive ‚von oben‘ frage ich mich immer: Was kommt nach der Hegemonie? Doch nicht etwa eine andere Hegemonie?!
Zu 9.: Die basisdemokratische Organisation sozialistischer Organisationen – kurz zwischengefragt: wie sieht es eigentlich mit einem Begriff der sozialistischen Institutionen aus? – erscheint mir bei den hier gegebenen Anhaltspunkten zur Überwindung des Kapitalismus doch recht schwierig, insbesondere wenn der Sozialismus ein demokratischer sein soll.
Nach den Feiertagen nun meine Antwort auf die – zum Teil erwartbaren – Kritiken:
@Daniel: Du liest in der Tat Dinge in die Thesen hinein, die ich nicht meine. Ich weiß nicht, wie du meinst, dass eine völlig entfremdete, von neoliberaler, religiöser und anderer Art von Propaganda verblendete Bevölkerung, der von BILD & Co. seit Jahrzehnten die Unveränderlichkeit und Unverbesserlichkeit der derzeit herrschenden Verhältnisse vermittelt wird, zu dem BEWUSSTSEIN kommt, dass diese kapitalistischen Verhältnisse zu überwinden sind und alternative Gesellschaftssysteme anzustreben und möglich sind. Meine Meinung, dass es selbst mit rationalen Argumenten sehr schwierig ist, die Bevölkerung davon zu ÜBERZEUGEN. Was ich mit der These nur sagen will, ist, dass es mit den Mitteln Lenins von 1917, von der RAF und anderen gewaltbefürwortenden Gruppen noch viel unwahrscheinlicher ist, stabile sozialistische Verhältnisse zu bekommen.
Natürlich bin ich dagegen, dass sich die kleine Avantgarde, die heute schon das „sozialistische Bewusstsein“ hat, wie ein Pfarrer auf die Kanzel stellt und die „unbewusste“ Masse von oben indoktriniert. Aber man kann auch nicht verhehlen, dass eine empirisch feststellbare Differenz zwischen Bürgern gibt, die eine andere Gesellschaft jetzt haben wollen, und anderen (großen) Teilen der Bürgerschaft, die wollen, dass alles so bleibt wie es ist. Dass Letztere vielleicht überzeugt werden müssen, beim antikapitalistischen Kampf mitzumachen, hat doch nichts mit totalitären Systemen zu tun. Wenn es den Sozialisten nicht gelingt, sie zu überzeugen, dann plädiere ich dafür, die Niederlage anzuerkennen und keine Gulags zu errichten, um sie dann mit Folter u. Ä. zu „überzeugen“. Dann soll die Menschheit eben zugrunde gehen, wenn sie es (mit rationalen Argumenten) nicht verstehen will.
Zur Rolle der Wissenschaft. Ich plädiere gegen eine systemstabilisierende Wissenschaft, die die gegebenen Verhältnisse in ihrer Forschung nicht kritisch hinterfragt (das gilt dann natürlich auch nach einem sozialistischen Umsturz!). Ich will keine von der Bourgeoisie bezahlte Auftragswissenschaft, sondern eine Wissenschaft, die der Gesellschaft und dem gesellschaftlichen Fortschritt dient, um es mal ganz pathetisch auszudrücken. Was das konkret heißt, kann/will ich allein nicht festlegen, das wäre ja demokratisch unter den Bürgern auszuhandeln. Auf jeden Fall müssten die Hochschulen viel demokratischer organisiert sein, d. h. die Hochschulgremien paritätisch besetzt, der Rektor darf nicht von Kuratorien gewählt werden, in denen Wirtschaftsvertreter Stimmrechte haben etc. Und ich plädiere für eine Wissenschaft, die nicht im Elfenbeinturm sitzt und abstrakte, für weite Teile der Bevölkerung unverständliche Dinge „philosophiert“. Klar ist das kaum objektiv feststellbar, aber ich möchte kurz gesagt, dass es mehr Wissenschaftler des Typus Adorno, Marcuse oder Arendt gibt, die sich auch in politische Debatten einschalten.
Zu deiner Kritik am Kulturellen: Das verstehe ich nun überhaupt nicht, wo dein Problem liegt. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wenn Syriza oder unsere deutsche LINKE im Bundestag eine absolute Mehrheit besitzt, sie dann problemlos ihre Idee vom Sozialismus durchsetzen kann? Nein, es muss auch außerhalb des Parlaments eine Stimmung/ein Bewusstsein (oder wie auch immer man es benennen will) vorhanden sein, das den Sozialismus möglich macht. Mit These 4 ist gesagt, dass die sozialistischen Politiker Leute wie z. B. Konstantin Wecker, Phil Ochs oder Dietmar Dath bräuchten, die auch im Bereich Kunst und Kultur sozialistische Überzeugungen unterstützen/erzeugen. Auch die Medien dürfen nicht – wie in Lateinamerika – unter der Kontrolle von neoliberalen Einzelpersonen stehen, sondern müssen demokratisch kontrolliert sein, Bürgermedien sein. Wenn Wissenschaft, Medien und wesentliche Kulturbereiche von der neoliberalen Ideologie beherrscht werden (ohne dass es wirkmächtige sozialistische Alternativen gibt), kann eine sozialistische Regierung nichts verändern, sondern wird früher oder später gestürzt.
Zu These 9: Dass basisdemokratische Organisation schwer ist, habe ich zum Teil selbst schon erlebt – das ist ja klar und entsprechend vorsichtig ist diese These formuliert. Nur das entsprechende Gegenteil – demokratischer Zentralismus oder das heutige Parteimodell der CDU ohne jegliche Mitgliedermitbestimmung – erscheint mir auch nicht gut. Oder wie stellst du dir demokratisch organisierte Institutionen/Parteien vor?
Zur Thematik empfehle ich einen Aufsatz aus den Marxistischen Blättern vom Dezember von Thomas Metscher, mit dessen grundsätzlichen Aussagen ich zu 95 % übereinstimme und der für den Utopiebegriff im marxistischen Denken plädiert: „Von der Notwendigkeit der Utopie in finsteren Zeiten„